Selbstbestimmung – das Tor zur Freiheit?
Yvonne Schwengeler
14. Januar 2024

Kaum auf der Welt, beginnt dieser Kampf. Wir erleben Grenzen nicht als bewahrend, sondern als Einschränkung. Schon das Kleinkind versucht ständig, die Hand der Mutter loszulassen und schützende Räume zu übertreten. Später lehnt sich das Kind auf gegen die Regeln daheim und in der Schule, versucht sie zu brechen, um herauszutreten in die vermeintliche Freiheit. Obwohl es sich dabei manchmal eine blutige Nase holt, gibt es dieses Bestreben nicht auf. Dies bringt die Erfahrung mit sich, dass das Überschreiten schützender Grenzen negative Konsequenzen hat.

In der Phase der Pubertät wird der Drang nach Unabhängigkeit übermächtig. Zum Erwachsenwerden gehört es, eigenverantwortlich zu handeln. Doch Jugendliche verwechseln Freiheit oft mit Regellosigkeit und erleben sich in neuen Abhängigkeiten gefangen: in Pornografie, Magersucht oder einem krankhaften Streben nach Selbstoptimierung, nach einem Ideal, das illusorisch und unerreichbar ist. Lernen sie daraus, dass es keine neutrale Zone gibt, dass sie immer jemandes Knecht sind? Mitnichten. Der Mensch jagt immer der Illusion nach, völlig unabhängig leben zu können. Im Streben nach Macht und Geld glaubt er, sich diese Unabhängigkeit erkaufen zu können. Äusserlich mag das vielleicht gelingen, aber die Zwänge in seinem Innern werden sich weiter verstärken. Warum? Weil unser Herz keine neutrale Zone ist. Es ist ständig umstritten. Und das, was uns besetzt, treibt uns an.

Freiheit, die wir meinen

Freiheit wird oft verstanden als ein Zustand, in dem ich tun und lassen kann, was ich will. Niemandem Rechenschaft geben zu müssen über mein Handeln und selbstbestimmt durchs Leben zu gehen. Aber diese absolute Freiheit gibt es nicht, weder politisch noch persönlich. Weil wir sind, wie wir sind, nämlich ichbezogene Menschen, brauchen wir Regeln für das Zusammenleben, Gesetze, die schützen, mich selbst und auch die andern. Meine Freiheit endet dort, wo sie andere einschränkt. Freiheit ohne Verantwortung ist zügellos und endet im Chaos.

Freiheit ist ein Thema, das die Philosophen schon immer beschäftigte. Immanuel Kant hat den kategorischen Imperativ postuliert, der besagt: «Handle nur nach dem Leitsatz, von dem du willst, dass er ein allgemeines Gesetz wird.» Das heisst: Handle vernünftig und nicht aufgrund deiner Launen und Triebe. Schön wär’s, ist es aber auch realistisch? Vielleicht hätte Kant sich mal mit dem Römerbrief beschäftigen müssen! Da schreibt Paulus: «Denn ich weiss, dass in mir, das heisst in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich» (Röm. 7,18–19).

Es ist nicht so einfach, der Wahrheit über sich selbst ins Auge zu blicken und zuzugeben, wer und wie wir sind. Dass wir es allein nicht schaffen. Wir zeigen uns andern von der besten Seite und hoffen, so unsere Schwächen vor ihnen verbergen zu können. Weshalb? Weil wir entsetzliche Angst haben vor Ablehnung. Das heisst doch nichts anderes, als dass uns die Menschenfurcht im Griff hat.

Berufen zur Freiheit

Freiheit und Befreiung sind Begriffe, die sich durch die ganze Bibel ziehen. Der Mensch ist dazu berufen, frei zu sein und in Gemeinschaft mit seinem Schöpfer zu leben. Die ersten Menschen verspielten ihre Freiheit, indem sie die von Gott gesteckte Grenze überschritten. Sie handelten sich damit Angst und Scham ein. Das Verstecken begann und zieht sich durch die ganze Menschheitsgeschichte.

Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem jungen Mann über den christlichen Glauben. Ziemlich aggressiv meinte er: «Weshalb hat Gott diesen Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen überhaupt ins Paradies gesetzt? Es ist doch zynisch, die Menschen dieser Versuchung auszusetzen. Sie mussten doch fallen.»

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 01/2024