Wenn der Glaube enttäuscht.
Nicola Vollkommer
13. Juli 2016

«Und schlachtet das Kalb, das wir im Stall gemästet haben ... Und ein Freudenfest begann ... Da wurde der ältere Bruder zornig und wollte nicht ins Haus gehen.» (Lukas 15,23–24.28)

Die Reaktion ist nachvollziehbar. Seit seiner Kindheit ist dieser junge Mann der mustergültige Sohn, der sich den Erwartungen seines Vaters mühelos fügt. Als stellvertretender Geschäftsführer verwaltet er den familiären Landwirtschaftsbetrieb. Tagsüber weist er Hilfsarbeiter ein, prüft die Milchmenge pro Kuh, führt die Aufsicht über Wartungsarbeiten an Gebäuden und Fuhrwerken, rechnet den Erlös vom Markttag aus. Abends überprüft er den Kassenstand. Nachts träumt er von Wetterturbulenzen und Heuballen. Er ist mit Herzblut dabei, ein Schufter aus Leidenschaft, der seinem Vater jeden Wunsch von den Augen abliest. An dem Tag, an dem sein kleiner Bruder, von Geburt an der klassische Faulenzer, endgültig ausbüxt und seinen Kapriolen als Partylöwe in der Ferne weiter frönt, hat der ältere Bruder für seine trauernden Eltern wenig Verständnis. Mit dem Auszug des jungen Tunichtgut ist für ihn Reizfaktor Nummer eins entsorgt. Die Bilderbuch-Karriere kann weiterblühen – bis zu jenem Tag, an dem alles anders wird. Töne, die in diesem von Tüchtigkeit geprägten Alltag selten zu hören sind, erklingen vom Familienhaus her. Düfte von Gewürzen und gebratenem Fleisch, Klänge von Musik und Gelächter füllen die Luft. Das halbe Dorf ist mit Luftballons und Wunderkerzen eingetroffen. Der Vater, ausser sich vor Freude, rennt aus dem Haus, um seinem älteren Sohn die gute Nachricht zu überbringen: Der abtrünnige Nichtsnutz ist zurück! Ein Ereignis. Unterschiedliche Reaktionen. Der ältere Bruder ist sprachlos vor Empörung. Im Handumdrehen geraten seine geordneten Strukturen aus den Fugen. Er wird mit etwas konfrontiert, das in seiner zugeknöpften Welt keinen Platz hat: ausgelassene Freude. Jahrelang angestauter Frust, der unter der Oberfläche brodelt, platzt in dem einen Satz heraus: «All die Jahre habe ich schwer für dich gearbeitet und dir nicht ein einziges Mal widersprochen, wenn du mir etwas aufgetragen hast. Und in dieser ganzen Zeit hast du mir nicht einmal eine junge Ziege gegeben, um mit meinen Freunden ein Fest zu feiern» (Lukas 15,29).

Wer von uns fühlt nicht mit, widerspricht diese Geschichte doch jedem gesunden Menschenverstand. Sie macht eine Witznummer aus dem primitivsten ABC einer vernünftigen Pädagogik. Immerhin hat der ältere Sohn das Getreide eingesammelt, aus dem das Mehl für die Festtorte entstanden ist. Das Kalb gezüchtet. Den Tisch gezimmert, auf dem die Leckereien ausgebreitet sind, mit denen die Rückkehr des Quertreibers gefeiert werden. Seit Menschengedenken erfüllt der ältere Bruder seine Pflicht bis aufs Letzte. Und jetzt wird der belohnt, der es am wenigsten verdient hat. Wie muss er sich an den Rand gedrängt, übersehen, betrogen fühlen!


… und ich?

Es ist eins der traurigsten Bilder in der Bibel. Ein Bild, das auch heute in christlichen Kreisen häufig vorkommt. Der Mitarbeiter Gottes, der mit verschränkten Armen an der Tür zum Saal steht und missmutig auf das Treiben der Partygäste blickt. «Und ich? Was hat mir meine Mühe für Gott gebracht?» Meist gibt es, wie beim älteren Bruder in der Geschichte, irgendeinen Auslöser, der das Fass zum Überlaufen bringt.

«Nur weil ich keine Szenen mache und kein Typ für grosse Emotionen bin, wird der andere bevorzugt.» – «Nur weil ich einmal ordentlich auf den Putz gehauen und meine Meinung gesagt habe, werde ich nicht mehr beachtet.» – «Nur weil ich keine aufreissende Show bieten kann, wollen die Jugendlichen einen anderen Leiter.» – «Nur weil ich an dem Tag keine Zeit hatte, werden die anderen jetzt gefragt.»

In diesem «nur weil» steckt eine Menge Herzblut und Frust, oft jahrelange Mühe und Arbeit. Es gibt kaum ein schmerzvolleres Gefühl als das, von Gott und Menschen zur Seite geschoben zu werden. Oder gar für die Mühe, die man sich gemacht hat, bestraft zu werden. Anklänge daran finden wir auch in der Klage des Psalmisten: «War es denn völlig umsonst, dass ich mein Herz rein hielt und kein Unrecht beging?» (Psalm 73,13). Es ist das nagende Gefühl: «Hab ich nur meine Zeit verschwendet? Bin ich doch auf der falschen Spur gelandet?»

(Artikelauszug aus ethos 07/2016)