Weltweit gibt es 700 Millionen Frauen, die Kinderbräute waren, rund 250 Millionen davon waren noch keine 15 Jahre alt. 14 Millionen Kinder werden weltweit jährlich verheiratet, das sind 39 000 täglich. Sie werden weder gefragt, noch können sie die Folgen für sich abschätzen. Mädchen, die unter 18 Jahren eine Ehe eingehen, brechen häufiger die Schule ab, erleben mehr häusliche Gewalt und sterben häufiger während der Schwangerschaft und im Wochenbett. Und vielfach ist es für sie ein Alltag zwischen Ausbeutung, Prügel und Vergewaltigung.
Anette Bauscher
18. Januar 2017

«Ein Mädchen mit Migrationshintergrund ist hier bei uns aufgewachsen und wird ins Herkunftsland der Eltern verheiratet. Nach den Sommerferien kommt es einfach nicht mehr zurück ...»

«Mädchen (10) flieht vor Ehemann (80) – Vater bringt sie zurück» – «Wenn man muss, und man will nicht» – «Verkaufte Unschuld» – «Lieber tot als zwangsverheiratet» – «Kinder als Bräute – Islam verheiratet neunjährige Mädchen» ...

 

Solche Schlagzeilen sind in Deutschland eher selten zu lesen. Doch nicht erst durch den Zustrom der vielen muslimischen Flüchtlinge sind Zwangs- und Kinderehen auch in Deutschland zum Thema geworden. Bei mehr als 1400 Minder­- jährigen steht im Pass «verheiratet». Für alle, die es wissen wollten, waren verheiratete Kinder auch früher schon in den Fokus gerückt. Im Jahr 2008 ergab eine Befragung bei deutschen Beratungseinrichtungen, dass 3443 Personen, darunter auch einige Jungen und Männer, wegen drohender oder vollzogener Zwangsheirat Hilfe gesucht haben. Seither kursiert die Zahl von 3000 Zwangsehen jährlich in Deutschland. Im Jahr 2013 waren alleine in Berlin 431 Mädchen und Frauen davon betroffen und 29 Jungen oder Männer. Einzelfälle also?


Keine Einzelfälle

Keineswegs. Das bestätigt auch Ahmad Mansour, ein palästinensischer Psychologe, Programmdirektor bei der European Foundation for Democracy in Brüssel und Autor des Buches «Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen». Er berät Jugendliche aus patriarchalischen Strukturen und weiss, dass ihre Angst vor der Familie oft grösser ist als vor einem fremden Ehepartner. Und er vermutet, dass sich 80 % der bedrohten Jungen und Mädchen dem Willen der Eltern beugen. Wie hoch die tatsächliche Zahl der Ehen ist, die erzwungen werden – und wie viele Kinderehen darunter sind –, wagt niemand zu schätzen. Denn nur die Mutigsten suchen Hilfe, die anderen leiden still. Und vergessen wir nicht, dass die Themen Zwangsheirat und «Ehrenmord» oft nah zusammenhängen. Denn schon alleine die Verweigerung des von den Verwandten auserwählten Partners oder ein Gerücht beschmutzt die Ehre in der so genannten «Schamkultur».

Theoretisch ist die Zwangsehe weltweit verboten, dafür sorgt der Artikel 16, Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Trotzdem wird sie in vielen Ländern einfach akzeptiert, weil sie Tradition ist – und weil die Männer das Sagen haben, die davon profitieren. Nicht nur in Nigeria, der Türkei oder in Vietnam. Auf Kosten von meist jungen Mädchen, die oft einem viel älteren Mann übergeben werden wie eine Ware.

Die Formen von Zwangsheirat sind so unterschiedlich wie die Gründe. Ein Mädchen mit Migrationshintergrund ist hier bei uns aufgewachsen und wird ins Herkunftsland der Eltern verheiratet. Nach den Sommerferien kommt es einfach nicht mehr zurück. In anderen Fällen sind junge Frauen der Zweck, Männern die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. Oder ein junger Mann mit Migrationshintergrund – oder seine Verwandten – bevorzugen eine Frau aus dem Herkunftsland und holen sich eine so genannte «Importbraut». In muslimischen Ländern kommt es noch häufig vor, dass Cousin und Cousine heiraten. Finanzielle Aspekte können entscheidend sein. Oder muslimische Mädchen aus Deutschland sind in den Augen des Bräutigams oder der Familie «zu westlich geprägt».

(Artikelauszug aus ethos 1/2017)