Als Kind von den Eltern weggesperrt.
Daniela Wagner
12. Mai 2016

Herr Bollguri, Sie sind Albaner und leben heute in Berlin. Wie kam es dazu?
Als ich 24 Jahre alt war, wurden christliche Ärzte der Organisation «Medizinische Nothilfe Albanien» aus Deutschland auf mich aufmerksam. Damals war ich auf einem Auge blind und das andere war so schwer beeinträchtigt, dass meine Sehkraft gerade mal 3 % betrug. In Deutschland wurde ich mehrmals erfolgreich operiert. Noch heute bin ich in Behandlung, deswegen durfte ich hier bleiben. Zudem erhielt ich eine fachmännisch angefertigte Arm- und Beinprothese. Bis zu dem Zeitpunkt konnte ich mich nur auf einem Bein hüpfend fortbewegen. Für die medizinische Hilfe, die ich hier erhalten habe, bin ich sehr dankbar. Eine solche Behandlung wäre in Albanien nicht möglich gewesen. Dort, wo ich aufgewachsen bin, schenkte man behinderten Menschen wenig Beachtung und investierte keine kostspielige medizinische Hilfe in sie.

Sie sind als gesunder Junge auf die Welt gekommen. Was ist passiert?
Es war der 19. Juli 1984. Ich war damals sechs Jahre alt und allein zu Hause. Neben unserem Haus befand sich ein alter Kuhstall. Ich fand dort eine Handgranate aus dem Zweiten Weltkrieg, die durch ein Loch im Dach runtergefallen sein musste, und spielte mit ihr, worauf sie explodierte. Mein rechter Arm wurde abgerissen, das rechte Bein zerfetzt. Notdürftig versorgte man mich und fuhr mich dann auf einem riesigen Holztransport-Lastwagen ins vier Stunden entfernte Krankenhaus. Immer wieder wurde ich ohnmächtig. An die grauenhaften Schmerzen auf dieser Fahrt kann ich mich bis heute erinnern; sie haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Das Bein wurde entfernt, um die Wunde zu schliessen und ein Verbluten zu verhindern. Heute würde man mich anders behandeln, aber damals war die Medizin in Albanien noch sehr rückständig.

Wie sah Ihr Leben nach dem Unfall aus?
Meine Eltern lebten nach dem Motto: «Was denken die anderen?» Das Stigma, ein behindertes Kind zu haben, lastete schwer auf ihnen. Wenn Gäste kamen, sperrten sie mich weg, damit sich niemand an meinem Aussehen störte. Ihnen war schlicht nicht bewusst, dass behinderte Kinder die gleichen Gefühle haben wie «gesunde». Natürlich sahen sie meine Schmerzen, mein Leiden. Mein Vater tröstete mich mit der Absicht, Geld sparen zu wollen, damit ich später davon leben könne. Dies sei mein Schicksal und ich müsste es akzeptieren, meinte meine Mutter. Beide waren total überfordert und sahen keinerlei Zukunftsperspektive für mich.

In meinem Schmerz fühlte ich mich unendlich einsam, verlassen, ungeliebt und wertlos. Ich konnte nichts machen, als einfach zu Hause rumsitzen. Wozu bin ich überhaupt da? Mein Leben hat ja keinen Sinn, dachte ich. Dabei sehnte sich mein Herz so sehr nach Annahme und Liebe. Ich wollte doch dazugehören! Neben den seelischen plagten mich auch starke körperliche Schmerzen. Meine Eltern hatten keine Ahnung, was sie mir mit ihrer Ablehnung antaten.

Hatten Sie keine Geschwister, keine Freunde, die mit Ihnen spielten und damit Ihre Einsamkeit linderten?
Doch, als ich klein war. Mit der Zeit begann sich aber auch mein älterer Bruder vor den anderen für mich zu schämen und übernahm das Verhalten meiner Eltern. Ich konnte ihn gut verstehen.

Mein kleiner Bruder ist sieben Jahre jünger als ich. Als er meinen Zustand so richtig wahrnahm, befand ich mich schon in Deutschland. Meine Cousinen gaben sich manchmal mit mir ab, aber dies geschah meist aus reinem Mitleid. «Dieser arme Kerl, wir gehen für fünf Minuten zu ihm» – das schmerzte mich fast mehr als Ignoranz.

Weshalb konnten Sie keine Schule besuchen?
In Albanien gab es keine Schule für Behinderte, und weil meine Eltern sich meiner schämten, durfte ich meine Umgebung nicht verlassen. Natürlich bekam ich auch keine Blinden-Unterstützung. So lernte ich, mich durch Geräusche und das Anfassen von Gegenständen zurechtzufinden. Bis heute gibt es Dinge, die ich anfassen muss, obwohl ich sie sehe, um sie besser zu begreifen.

Womit haben Sie sich den ganzen Tag beschäftigt?
Zum Zeitvertreib züchtete ich Tauben. Aufgrund des Flugverhaltens – dem Geräusch des Flügelschlags, der Sequenz – und auch der Art des Gurrens konnte ich sie unterscheiden. Ich spielte mit ihnen, es waren bis 200 Stück. Zwar konnte ich sie nicht sehen, doch wenn sie ganz nahe kamen, erkannte ich, ob es sich um eine schwarze oder eine weisse Taube handelte.

Im Teenager-Alter spitzte sich Ihre Situation dramatisch zu ...
Ja, als ich 15 Jahre alt war. Tief hatte es sich in mein Bewusstsein eingegraben, dass ich nicht gleich war wie die andern. Ich empfand tiefe Scham, fühlte mich wertlos. Die gleichaltrigen Jugendlichen gingen aufs Gymnasium. Ich wollte Torhüter werden oder Musiker – eine reine Utopie! Niemals würde ich akzeptiert, niemals von jemandem geliebt werden. Der Gedanke kam hoch: Ich bin ein Monster! Zwar bekam ich von meinen Eltern Essen und Trinken, das war aber auch schon alles. Dann unternahm ich einen Selbstmordversuch, indem ich mir ein Stromkabel um den Hals band. Ich wollte den Stecker einstecken – da fiel der Strom aus. Das geschah öfters in Albanien. Meine Mutter kam hinzu und verhinderte es. Als ich ihr meine Not zu schildern versuchte, verstand sie meine tiefe Verzweiflung nicht wirklich. Ich wollte unter die Menschen, erfuhr aber nur Ablehnung. Niemand wollte mich, das Monster!

(Interviewauszug aus ethos 05/2016)