Gefühle begleiten unser Tun und Lassen von der Wiege bis zur Bahre. Sie können einen Menschen überwältigen und gar die Vernunft ausschalten. «Wenn du dich gut fühlst, folge deinen Gefühlen», lautet die Devise. Ist das richtig und zu unserem Besten?
Roswitha Wurm
6. Oktober 2016

Während ich diese Zeilen schreibe, durchfluten warme Sonnenstrahlen mein Schreibzimmer. Neben mir steht frischer Himbeersaft von den süssen Früchten, die ich tags zuvor im Garten gepflückt habe. Alles fällt leicht. Selbst die Sorgen erscheinen erträglich und unerledigte Aufgaben empfinde ich als bereichernde Herausforderungen! An solchen Tagen fühle ich mich rundum wohl.

Was ist aber an Tagen, an denen draussen der Herbstwind stürmt und mein Herz friert, weil liebe Menschen um mich herum erkranken, sterben oder bittere Schicksalsschläge erleiden? Oder wenn ich selbst von Krankheit und Angriffen bedroht bin? An Tagen wie diesen fühle ich mich wie eines dieser erschreckend düster aussehenden Emojis, die ich von meinen Lernhilfe-Schülern per SMS geschickt bekomme, wenn bei ihnen eine Klassenarbeit danebengegangen ist ...

Wir lesen in der Bibel von den unterschiedlichsten menschlichen Emotionen. Häufig handelt es sich dabei um Gefühle wie Angst, Liebe oder Erbarmen. Gefühlsregungen also, die Menschen anderen Menschen gegenüber zeigen. Gottes Wort berichtet von Männern und Frauen, die einander in aufrichtiger Liebe zugetan sind. Von tiefen freundschaftlichen Gefühlen, wie etwa zwischen David und Jonathan. Wir lesen von Jesus, der um seinen verstorbenen Freund Lazarus trauert oder bewegt ist von Menschen, die mit einer gros­sen inneren Not zu ihm kommen. Von Petrus, der erschüttert ist über sein Versagen, als er bemerkt, dass er Jesus dreimal verleugnet hat. Judas Iskariot hatte Gefühle der Reue, als er das Kopfgeld für Jesus ausbezahlt bekam. Davids Psalmen sind ein Zeugnis für allerlei Gemütsbewegungen, die ihn bis ins Innerste seiner Seele erschütterten. Auch die Klagelieder und das Hohelied sprechen von tiefsten menschlichen Empfindungen.

Gottes Wort verschweigt also nicht, dass wir Menschen Gefühle haben. Unser Alltag wird geprägt von dem, wie wir in verschiedenen Situationen empfinden: Freude, Ärger, Trauer, Angst, Kraft, Entmutigung, Abscheu oder Zuneigung. Unsere Gefühle haben uns etwas zu sagen. Sie warnen uns vor Gefahren, machen uns empfindsam für andere Menschen und verleihen unserer Freude Ausdruck. So weit, so gut.

Probleme bereiten sie uns dann, wenn sie uns zu steuern beginnen und wir ausschliesslich unseren Gefühlen gemäss antworten, entscheiden und reagieren. Judas etwa liess sich von seinem Selbstmitleid übermannen, das grösser war als seine Reue, und so nahm er sich das Leben. Petrus hingegen, der Jesus ebenso verraten hatte, weinte bitterlich über sein Versagen und kehrte um zu seinem Herrn. Sein geistliches Leben bekam dadurch eine ganz neue Dimension.

Wenn unser Arbeitskollege zum wiederholten Mal vergisst, den wichtigen Termin weiterzugeben, hätten wir vermutlich Lust, ihn einmal so richtig anzuschreien. Die offene Zahnpasta-Tube oder die achtlos auf den Boden geworfenen Socken des Sohnes machen uns wütend. Ein unfreundliches «Ich freu mich schon auf den Saustall in deiner zukünftigen Wohnung!» würde unseren momentanen Gefühlen deutlich Ausdruck verleihen. Jemand bittet uns um einen Gefallen. Wir haben jedoch keine Lust, unsere Komfortzone zu verlassen und dem anderen zu helfen ...

Bereits im Alten Testament begegnen uns die schlimmen Folgen, wenn Menschen sich von ihren Gefühlen steuern lassen: Kain erschlug seinen Bruder Abel, weil Eifersucht und Wut in plagten. David beging Ehebruch, weil er von seinen Trieben übermannt wurde, als er die schöne Bathseba erblickte. Ungeduld veranlassten Sara, ihren Mann zur Magd Hagar zu schicken, um den ersehnten Sohn zu zeugen. Esau verkaufte sein Erstgeburtsrecht, weil er Lust auf sein Lieblingsessen verspürte ...


Gefühle als Indikator, nicht als Diktator

Nun sind Gefühle nicht grundsätzlich schlecht. Wir empfinden ja durchaus auch häufig positive, die uns ermutigen und ungeahnte Kräfte verleihen! Dennoch bergen auch diese eine Gefahr, wenn sie unser Leben diktieren. Der chinesische Prediger Watchman Nee, der zwanzig Jahre seines Lebens wegen seines Glaubens in Arbeitslagern verbrachte, prägte den Ausspruch: «Pulsierende Emotionen verführen den Verstand und rauben dem Gewissen das Urteilsvermögen.» Das heisst, sowohl negative als auch positive Gefühle können uns verführen, falsch zu reagieren. Falsch bedeutet für Jesusnachfolger: nicht Gottes Wort entsprechend. Der Zeitgeist fordert, unseren Gefühlen entsprechend zu handeln. Der Wut muss Ausdruck verliehen werden! Lust muss ohne Rücksicht auf Verluste ausgelebt werden! Dem Begehren muss stattgegeben werden! Wie oft hört man von Ehebrechern den Satz: «Ich komme einfach nicht gegen meine Gefühle an!»

(Artikelauszug aus ethos 10/2016)