Kaum geboren, lauert ihnen tödliche Gefahr: Zeitgleich im Mai mähen die Landwirte zum ersten Mal ihre Wiesen.
Kevin Winterhoff
2. Mai 2016

Wer sehnt sich nach einem langen, kalten und dunklen Winter nicht wieder nach dem Frühling? Für viele gehört er deshalb zur beliebtesten Jahreszeit: die Knospen an den Bäumen, das frische Grün der Wiesen und die vielen blühenden Pflanzen – es ist die Zeit des neuen Lebens, der Hoffnung, des nahenden Lichts.

Als Naturfotograf erlebe ich das jedes Jahr ganz nah und eindrücklich. Neben meinen eigenen Naturbeobachtungen in den Hügeln des nordrheinwestfälischen Sauerlandes werde ich auch immer wieder von Jägern eingeladen, um mit ihnen vor der ersten Mahd nach Rehkitzen zu suchen.

Für gewöhnlich bringen die Wildtiere ihren Nachwuchs im Frühjahr zur Welt, so auch die Rehe. Tief in der Wiese versteckt, liegen dann allerorts kleine Rehkitze. Sie sind perfekt getarnt, ihr braunes Fell passt sich dem Untergrund wunderbar an und die
hellen Flecken imitieren die Schatten des durch das Gras streifenden Lichtes. Ausserdem weisen sie keinerlei Eigengeruch auf und können somit auch nicht von Raubtieren wie Wildschweinen oder Füchsen entdeckt werden. Kurz nach der Geburt befreit die Rehgeiss (Ricke) ihr Kitz durch Ablecken des Körpers von jeglichem Eigenduft. Den grössten Teil ihrer ersten Lebenswochen liegen die Kleinen regungslos im hohen Gras (Drückverhalten), um auf die Mutter zu warten, die sich zwar nie weit von ihrem Nachwuchs entfernt, pro Tag aber nur für ca. eine halbe Stunde zum Säugen vorbeikommt. Erst nach den ersten vier Lebenswochen beginnen die Kitze, ihren Müttern im Feld zu folgen.

Die vermeintliche Sicherheit durch starres Verharren im Schutz der Wiese führt jedoch in einem Fall zum sicheren Tod: Die erste Mahd der Wiesen im Frühjahr verläuft annähernd parallel zu den ersten vier Lebenswochen der Rehkitze. Während die Landwirte das Gras für ihre Kühe brauchen, sind die Wiesen gleichzeitig Lebens- und Schutzraum für die heimischen Wildtiere. Die einzige Möglichkeit, die Kitze vor dem Tod durch Übermähen zu bewahren, ist das Absuchen der Wiesen. Dabei geht eine Gruppe von Menschen im Abstand von ungefähr zwei Metern in Bahnen nebeneinander her durch das Feld. Überall dort, wo ein Tierchen gefunden wird, platziert der Retter einen Holzstock. Nach erfolgter Suche werden dann die verschiedenen Kitze allesamt hinausgetragen. Hierbei ist die richtige Vorgehensweise von grösster Wichtigkeit: Nähme man das Rehkitz mit blossen Händen auf, liefe es Gefahr, von der Mutter verstossen zu werden. Ausserdem wäre es für Fressfeinde nicht mehr geruchlos.

(Artikelauszug aus ethos 05/2016)