Der falsche Urenkel erscheint zum Fest. Unerwartet erhält er ein grosses Geschenk – himmlische Grüsse.
Eckart zur Nieden
13. Dezember 2016

«Herzliche Grüsse» stand auf der Einladung. Eine Doppelkarte zum Aufklappen. Und von einer Weihnachtsfeier stand etwas drauf, zwischen Sternen und Tannenzweigen. Aber das mit den herzlichen Grüssen habe ich besonders behalten, weil ich nachher den tieferen Sinn ...

Aber ich will mal der Reihe nach erzählen, damit ihr es versteht, die Geschichte ist kompliziert genug.

Anfang November besuchte mich Thomas. Wir hatten uns schon zwei Jahre nicht mehr gesehen, weil er jetzt in Berlin wohnt. Wir waren zusammen in Neubrandenburg in die Schule gegangen, hatten dann manches Abenteuer gemeinsam erlebt und – offen gestanden – auch manches nicht ganz saubere Ding zusammen gedreht.

Thomas erzählte mir, dass er einen Brief bekommen hatte von einem gewissen Eberhard Volkhauser aus Stuttgart. Der Mann war ein ziemlich reicher Unternehmer – gewesen, muss man wohl sagen. Jetzt war er zweiundneunzig. Und er hatte das Bedürfnis, weil er annahm, dass er bald sterben würde, noch einmal mit allen seinen Nachkommen Weihnachten zu feiern. In einem vornehmen Stuttgarter Hotel, er kann sich so was leisten.

Als der alte Herr Volkhauser nun eine Liste aller Nachkommen zusammenstellte, die er einladen wollte, fiel ihm ein, dass er in jungen Jahren als Wehrmachtssoldat ein Verhältnis zu einem Mädchen hier in Neubrandenburg hatte, ein Verhältnis, aus dem ein Kind hervorging. Wenn ich es richtig einschätze, hatte er das wohl nie vergessen, aber verdrängt. Nun ja, da waren die chaotischen Kriegs- und Nachkriegsjahre, dann die innerdeutsche Grenze. Jetzt im Alter wollte er sich dazu stellen und reinen Tisch machen. Er beauftragte eine Detektei, nach eventuellen Nachkommen aus der damaligen Verbindung zu suchen. Und die kamen auf Thomas. Er ist als Einziger übrig, der Urenkel von Volkhauser.

Und nun kam die Einladung. Zur Weihnachtsfeier mit der ganzen grossen Familie, von der Thomas null Ahnung hatte. Er würde ja gern hingehen, sagte er, vor allem, weil es ja sein könne, dass es da mal was zu erben gibt. Aber er könne leider nicht, er müsse eine Haftstrafe antreten. In drei Tagen müsse er sich melden. Sechs Monate wegen ... na ja, das gehört jetzt nicht hierher.

Thomas wollte, ich sollte an seiner Stelle hingehen. «Die kennen dich nicht», meinte er, «mich kennen sie ja auch nicht.»

Also, da musste ich erst einmal schlucken. Und nachdenken. Aber als Thomas dann sagte, wenn er mal was erben sollte von dem reichen Pinkel, würde ich ein Viertel davon kriegen, da war mein Entschluss gefasst: Ich gehe hin und spiele Thomas.

Der Alte hatte geschrieben – na ja, wahrscheinlich nicht er, sondern eine Sekretärin –, alle Kosten würden erstattet. Thomas sollte von Berlin nach Stuttgart fliegen. Im Hotel wäre ein Zimmer gebucht. Also ging Thomas in den Knast und ich ins Fünfsternehotel.

Ich kann euch sagen – mir war nicht nach Luxus zumute, ich wusste überhaupt nicht, wie man sich in so vornehmen Kreisen verhalten muss. Einer der Söhne des alten Mannes hiess uns – mich und andere, die von weit her kamen – willkommen.

Man wusste, wer ich war, beziehungsweise sein sollte. Ich hatte das Gefühl, dass einige der Enkel und Urenkel nicht glücklich waren über meine Anwesenheit, vielleicht in dem Gedanken, dass sich dann ihr Erbe verringern könnte. Andere aber waren sehr freundlich, fragten mich aus und veranlassten mich damit zu einem ganzen Sack voller Lügen.

Für Sonntagnachmittag, den vierten Advent, war die Feier angesetzt. Da erst erschien Eberhard Volkhauser, den man wohl bis dahin schonen wollte. Er sass in einem Rollstuhl, konnte aber mit einem Stock auch kurze Strecken gehen.

Der Sohn, auch schon neunundsechzig, stellte mich vor. «Das ist Thomas Kühne, Papa, dein Urenkel aus Berlin.» Der Alte sah mich eine Weile schweigend an, mir wurde unheimlich, dann sah ich auf einmal, wie seine Augen feucht wurden. Er versuchte aufzustehen, andere sprangen herbei und halfen ihm. Als er stand, nahm er mich in die Arme, drückte mich an sich und weinte.

Ich kann gar nicht beschreiben, was ich dabei für Gefühle hatte. Scham vor allem. Scham dafür, dass ich diese Empfindungen bei ihm ausgelöst hatte und seine Zuneigung spürte, obwohl ich sie nicht im Geringsten verdient hatte. Wir sagten beide nichts. Ich hätte auch beim besten Willen nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen ...

(Artikelauszug aus ethos 12/2016)