Der Zustrom Hunderttausender überfordert Politik und Gesellschaft und nicht zuletzt auch die Christen, die sich nicht selten in einem moralischen Dilemma wiederfinden. Die Bibel hilft zu einem klaren Blick auf die Situation.
Thomas Lachenmaier
7. Juli 2016

Hunderttausende Menschen aus der islamischen Welt sind nach Europa gekommen, Hunderttausende werden noch kommen. Die humanitäre und politische Bewältigung sind für Politik und Gesellschaft offenbar eine Überforderung. Viele ängstigt der Zustrom der Menschen aus einer fremden Kultur und einer anderen Religion. Den Zuwanderern begegnet hier Hilfsbereitschaft, aber auch Ablehnung und Hass.

In den oftmals herzzerreissenden Schicksalen erkennen Christen eine persönliche Herausforderung. Hier wird die biblische Aufforderung zur Nächstenliebe konkret. Neben dieser persönlichen gibt es aber auch eine politische, gesellschaftliche und religiöse Dimension des Geschehens. Was müssen Zuwanderer an Integrationsbereitschaft mitbringen?

Die Heilige Schrift soll der Massstab unseres persönlichen Handelns sein. Sie definiert aber auch unsere Rolle in der Gesellschaft. Kann die Bibel in dieser konkreten Situation zur Richtschnur unseres Handelns werden?

Thomas Lachenmaier (factum) sprach darüber mit Dr. Markus Zehnder, Professor für Bibelwissenschaft an der Ansgar Teologiske Høgskole in Norwegen, Professor für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Leuven und Titularprofessor für Altes Testament an der Uni Basel.

Herr Prof. Zehnder, das Elend in Syrien ist den Menschen in Europa mit einem Schlag nahe gerückt. Mit den Zuwanderern bekommt die Not dieser Länder, aber auch die wirtschaftliche Misere der Balkanstaaten ein Gesicht. In Deutschland wird erbittert über dieses Thema diskutiert. Wie nehmen Sie diese Diskussion von aussen wahr?
Prof. Markus Zehnder: Ein Problem stellt bereits die Verwendung der Begriffe dar. Sehr oft wird pauschal von «Flüchtlingen» gesprochen. Diese Bezeichnung ist aber in vielen Fällen irreführend. Ich verwende häufiger den Terminus «Migranten», weil er der neutralste ist («Wandernde»). Er ist geeignet, als Oberbegriff für alle Arten von Menschen zu dienen, die sich aus unterschiedlichen Gründen von einem Ort aufmachen, um sich auf Dauer oder wenigstens längere Zeit an einem anderen Ort niederzulassen.

Im Einzelnen muss man zwischen den Ursachen der Wanderung, den Motiven und Zielen der Wandernden unterscheiden. Dass die Verwendung des Terminus «Flüchtlinge» im Blick auf die gegenwärtige Masseneinwanderung nach Europa falsch ist, lässt sich schon daran erkennen, dass die meisten Migranten aus sicheren Drittstaaten aufbrechen und dann innerhalb der sicheren Grenzen Europas keineswegs damit zufrieden sind, in Staaten wie Griechenland oder Kroatien zu bleiben, sondern in aller Regel in Länder weiterziehen wollen, in denen die staatlichen Versorgungsapparate voll ausgebaut und zugänglich sind.

Es gibt eine menschliche, aber auch eine politische und gesellschaftliche Ebene des Geschehens und wohl auch eine sicherheitspolitische Dimension. Es ist ein Dilemma, auch in einem moralischen Sinn. Kann man mit dieser Situation überhaupt «richtig» umgehen? Auch mancher Christ sieht sich in einer Zwickmühle. Wie kann uns die Bibel hier eine Hilfe sein?
Die Bibel hilft, die Wahrnehmung zu schärfen, einen Blick für historische und geistesgeschichtliche Zusammenhänge zu bekommen, ethische Grundlagen zu finden und aus dem Wirken Gottes in der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Das alles aber setzt voraus, dass man sich umfassend mit der Bibel vertraut macht und nicht einfach ein, zwei Stellen herauspickt und diese dann eins zu eins auf die heutige Situation überträgt.

Nicht wenige Christen stehen in der Gefahr, die Dimensionen, die über die unmittelbar zwischenmenschliche Ebene hinausgehen, zu übersehen. Das hat aber fatale Folgen. Ein Beispiel ist der sicherheitspolitische Aspekt: Es gibt genug voneinander unabhängige Quellen, die darauf hinweisen, dass unter denen, die jetzt nach Europa strömen, auch Menschen sind, die kommen mit dem Ziel, hier Anschläge auszuführen. Wenn man das jetzt ausblendet, wird sich das in der absehbaren Zukunft rächen.

(Interviewauszug aus ethos 07/2016)