«Na, jetzt müssen die Weihnachtspredigten wohl alle noch umgeschrieben werden», sagte unser Blumenverkäufer, als ich an der Kasse bezahlte. Das Attentat von Berlin – am 19. Dezember 2016 –, lag erst wenige Tage zurück und viele Menschen konnten immer noch nicht fassen, was da geschehen war. Mitten in der Hauptstadt – auf einem fröhlichen Weihnachtsmarkt rund um die Gedächtniskirche – war ein Lastwagen, gelenkt von einem tunesischen Gewalttäter, erbarmungslos in die Menschenmenge gerast. Das Resultat: 12 Tote und 45 Verletzte. Die ganze Stadt war erschüttert. Was der Blumenverkäufer mit seiner Frage meinte, war: Können wir jetzt einfach Weihnachten feiern, so, als ob nichts passiert wäre?
Wolfgang Nestvogel
16. Dezember 2017

Weihnachten – ein heimeliges Familienidyll?

Vor diesem dunklen Hintergrund stellt sich umso dringender die Frage: Wofür steht Weihnachten eigentlich? Was kann es bewirken? Einige sagen: Gerade jetzt brauchen wir die Illusion, die Gegenwelt von Weihnachten. Wenigstens für ein paar Tage abtauchen in ein heimeliges Familienidyll!

Aber kann Weihnachten das leisten? Erleben wir nicht in der Realität der Festtage oft genau das Gegenteil? Dass nämlich an Weihnachten, wenn man in der Familie zusammen ist, der ganze Ärger hochkommt? Er ist wohlbekannt, der sprichwörtliche Streit unter dem Tannenbaum! In den letzten Tagen habe ich von manchen Studenten gehört, dass sie dem Weihnachtsfest in der Familie mit gemischten Gefühlen entgegensehen.

Es ist ausserdem eine traurige Tatsache, dass die Scheidungszahlen nach Weihnachten deutlich ansteigen. Gerade an diesem Fest wird oft besonders bewusst, wie sehr Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Wir wollen lieben und können es doch nicht ... Wir sehnen uns nach Frieden und schaffen ihn nicht ... Diese emotionale und moralische Überfrachtung von Weihnachten – als dem grossen Fest der Liebe – erweist sich als zu schwere Hypothek. Der Spagat zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist bei vielen einfach zu gross.

Neben die Wirklichkeit des Streits tritt dann die Wirklichkeit des Leids. Wie können wir fröhlich Weihnachten feiern, wenn andere Menschen trauern? Das gilt ja nicht nur für die grossen Dramen in den Schlagzeilen. Wie tragisch können einsame Einzelschicksale sein, die es nie über eine Pressemeldung an die Öffentlichkeit schaffen!

Kommt uns da nicht unser Fest ziemlich hohl vor? Ist es nicht eher ein winterliches Placebo aus Lebkuchen und Glühwein? Was unterscheidet denn Weihnachten beispielsweise von einem Hollywood-Film im Kino? Einem Fussballmatch im Stadion oder einem Schubert-Konzert in der Elbphilharmonie? Auch da kann man für zwei Stunden abtauchen in eine andere Welt!

Mein Vater hat oft erzählt, dass sie während der Hungerzeit im Krieg häufig ins Kino gegangen seien. In den Filmen hätten sie dann gesehen, wie bestes Essen aufgetragen wurde. «Aber», so meinte er, «vom Gucken ist keiner satt geworden. Dann gingst du raus aus dem Kino und fandst dich wieder in der Wirklichkeit.»


Nur hingucken – nicht anfassen ...

Da, sagen die Kritiker, liegt das Problem von Weihnachten: Du kriegst es nicht zu fassen. Das ist natürlich zu wenig für unsere Fragen, unser Leiden und unsere Traurigkeit. Am Ende läuft alles auf die eine brutale Frage zu, ob Weihnachten nur zum Gucken ist oder etwa doch zum Anfassen. Ob Weihnachten irgendetwas ändern kann an Leid und Verzweiflung. Ob es eine Perspektive gibt für die Trauernden, einen Lichtstrahl in unserer Angst.

Wenn wir eine realistische, belastbare Antwort haben wollen, müssen wir uns für ein paar Minuten in die wichtigste Quelle einlesen, in die berühmte Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium (Luk. 2,8 ff.).

Sollten Ihnen in diesen Tagen irgendwelche Zeitungsartikel in die Hände fallen, wo behauptet wird, dass Einzelheiten der Weihnachtsgeschichte – beispielsweise die Jungfrauengeburt der Maria – nur eine Legende seien, auf die es doch gar nicht ankomme, dann möchte ich Ihnen als Theologe und Historiker dringend raten: Glauben Sie diese Aussagen nicht unbesehen. Lesen Sie lieber die historischen Berichte in der Bibel. Überzeugen Sie sich selbst vom Charakter der Texte.

Lesen Sie nach, was Lukas, der Historiker und Arzt, im Weihnachtsevangelium schreibt. Bevor er damit anfängt, gibt er Rechenschaft über seine Arbeitsweise (Luk. 1,1–4).

Dieser Bericht ist das Gegenteil einer lieblichen Legende und Lametta-Idylle: Ein rücksichtsloser Kaiser Augustus lässt seine Muskeln spielen und ordnet eine Volkszählung an. Das wusste der auch schon, dass Daten Macht sind, ein erprobtes Druckmittel. Aber die Volkszähler kamen nicht bequem ins Haus. Die Leute mussten vielmehr in ihre ursprünglichen Heimatorte reisen, um sich registrieren zu lassen, egal, wie alt oder jung sie waren, ob hochschwanger oder krank.

In Judäa (wozu Bethlehem gehört) regierte damals der machtgierige Provinzfürst Herodes, dessen finsterer Charakter uns auch aus anderen Geschichtsquellen bekannt ist. Herodes verfolgte den neuen Erdenbürger vom ersten Atemzug an bis aufs Messer, weil er sich in seinem Machtanspruch bedroht fühlte. Er befahl in seiner Region einen Kinder-Massenmord, nur um auf Nummer sicher zu gehen, dass er Jesus auch wirklich erwischte. Aber er scheiterte, musste scheitern, denn Gott hatte andere Pläne.

(Artikelauszug aus ethos 12/2017)