Jede Grenze fragt: «Auf welcher Seite stehst du?»
Yvonne Schwengeler
1. September 2021

Wer bin ich?

Wer bin ich?
Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich?
Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich?
Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selber von mir weiss?
Unruhig, sehnsüchtig, krank wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem,
als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen,
nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten,
nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf grosse Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen.
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich?
Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst
ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist,
dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich?
Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich,
Dein bin ich, o Gott!

Diese Worte Bonhoeffers – in der Gefängniszelle geschrieben, wo er der Willkür der Nazi-Schergen ausgeliefert einsass – bekommen für mich zurzeit eine ganz neue Bedeutung. Was ist Freiheit? Nie zuvor stellte ich mir diese Frage so häufig wie in den letzten eineinhalb Jahren, wo die Grundrechte der Menschen weltweit einfach ausgehebelt wurden. Wo ist Widerstand angesagt, wo Ergebung? Wie beurteile ich als Christenmensch Freiheit?

Freiheit wird oft als Lebensraum verstanden, in dem ich tun und lassen kann, was ich will. Ungebunden sein, niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen müssen, Herr sein über meine Zeit. Immanuel Kant hält den Menschen dann für frei, wenn er das tut, was vernünftig ist und nicht einfach seinen Trieben und Launen folgt. Sein sogenannter kategorischer Imperativ lautet dementsprechend: «Handle so, dass die Maxime deiner Handlung jederzeit zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden kann.» Juristisch gesehen findet die eigene Freiheit ihre Grenzen da, wo der Freiraum des anderen beginnt. Schön wär’s! Heute darf es nichts geben, was das Ego beschneidet. Einschränkungen und Verbindlichkeiten hindern an der Entfaltung. Der Egoismus treibt Blüten.

Grenzen haben zwei Aspekte: Sie schützen und bewahren, sie können aber auch einsperren. Sie trennen Gut und Böse, Richtig und Falsch, Wahrheit und Lüge. Jede Grenze fragt: Auf welcher Seite stehst du? Die einen sehnen sich danach, frei zu werden von Abhängigkeiten und Süchten. Die andern suchen die bewahrenden Grenzen zu durchbrechen in der Meinung, dort sei Erfüllung und geraten mehr und mehr in den Strudel, der sie nach unten zieht. Die Menschen sehen das Licht und sehnen sich danach, aber das Dunkel hält sie fest. Doch da ist einer, Jesus, der sieht die Not unseres Herzens. Wenn wir unsere Arme nach ihm ausstrecken, zieht er uns aus dem Schlamm der Sünde und stellt unsere Füsse auf weiten Raum.