«Was hat Gott mit uns vor?», fragten sich Susanne und Benjamin Hoster, als sich herausstellte, dass ihre kleine Noemi schwer behindert auf die Welt gekommen war. Wie Gott Hindernisse in Segen verwandelt.
Daniela Wagner
13. November 2020

«Früher waren wir eine unternehmungslustige Familie. Seit 2011 sind wir eine Familie mit Behinderung.» Wie meint ihr das?

Benjamin: Noemi ist im Januar 2011 geboren. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir zwei gesunde und tatkräftige Jungs, die es liebten, im Urlaub in den Bergen zu wandern und zu klettern. Nun wurde unser Traum erfüllt und wir bekamen auch noch eine Tochter. Doch dann merkten wir, dass Noemi sehr entwicklungsverzögert war. Der Arzt liess die Sache durch einen Genetiker untersuchen und lud uns zu einem Gespräch ein. Allerdings konnte er uns nicht viel mehr sagen, als dass Noemi einen Gendefekt hat, der sehr selten vorkommt, das «Pallister-Killian-Syndrom». Die meisten betroffenen Kinder sterben schon bei oder vor der Geburt. Wir setzten uns zu Hause an den PC und googelten: «38 Fälle in Europa, die meisten lernen weder Sprechen noch Laufen. Leiden häufig unter Organschäden und Epilepsie. Geringe Lebenserwartung ...» Viel mehr konnten wir durch unsere mit Tränen gefüllten Augen nicht lesen. Tausend Träume platzten in diesem Moment ...

Das ist nun schon lange her. Aber manchmal erinnern wir uns an unser Leben davor. Wir sehen andere Familien und wir merken: Nicht nur Noemi ist behindert, auch wir sind es. Alles ist schwieriger. Radtouren zum Beispiel als Familie sind undenkbar. Urlaub in den Bergen mit ausgiebigen Wanderungen fällt weg. Jeder Tagesausflug ist mühsam.

Worin ist Noemi beeinträchtigt?

Susanne: Noemi besucht die dritte Klasse der Körperbehindertenschule. Dort wird sie von einer persönlichen Integrationshelferin begleitet, weil sie weder laufen noch greifen noch sprechen kann. Der Tag startet um 6:00 Uhr mit Wecken, Ankleiden, Frühstücken und Fertigmachen für die Schule. Das alles dauert bei Noemi über eine Stunde und heisst eben auch, den nässenden Zugang zu versorgen, ihre trockene Haut einzureiben und die spastischen Füsse in die Orthesen zu bekommen. Frühstücken alleine ist ein Geduldsakt, weil Noemi sehr langsam Nahrung zu sich nimmt. Inzwischen kümmert sich Benjamin um die anderen vier Kinder. Von 7:15 Uhr bis 12:30 Uhr befindet sich Noemi in der Schule. Dann habe ich Zeit, mich um den Kleinsten zu kümmern, Einkäufe und Organisatorisches zu erledigen und das Mittagessen vorzubereiten. Der Nachmittag besteht aus Fahrjobs zur Musikschule, Sportverein, Arztterminen und Therapien mit Noemi. Alles dauert länger. Eine kurze Fahrt bedeutet, Noemi anziehen, den Rollstuhl ins Auto hiefen, sie reinsetzen und je nachdem, wie lange man weg ist, noch an alles denken, was eventuell passieren könnte. Wenn wir eingeladen werden, überlegen wir uns das gut. Gibt es da eine Möglichkeit zum Wickeln? Können wir Noemis Essen zubereiten? Ist es unhöflich, wenn ich mir 30 Minuten Zeit nehmen muss, um sie zu füttern? Stören wir die anderen Leute durch die seltsamen Geräusche, die Noemi von sich gibt?

Für Anspannung sorgen immer wieder ihre plötzlichen Infekte: Sie isst nicht, schläft den ganzen Tag. Was mag das wohl sein? Müssen wir zum Arzt, der vermutlich selbst keine Ahnung hat? Bei einer Erkältung: Kommen wir dieses Mal mit Brustwickeln und Medikamenten durch oder muss Noemi beatmet werden? Wann ist der richtige Zeitpunkt, ins Krankenhaus zu gehen? Und wer kümmert sich dann um die anderen Kinder?

Mit diesen Dingen lernt man umzugehen. Manchmal fällt es leichter, manchmal schwerer. Ganz anders verhält es sich mit den epileptischen Anfällen. Plötzlich treten sie auf – brutal, grausam, beängstigend. Wie lange soll ich abwarten, bis ich das Notfall-Medikament gebe? Und dann liegt dein Kind wie tot da und du fragst dich: Wirst du es je überleben, wenn dieser schreckliche Moment Wirklichkeit sein sollte, dass Noemi stirbt?

Habt ihr jemanden, der euch bei der Pflege zuhause unterstützt?

Susanne: In den letzten Jahren hat uns eine gute Freundin geholfen – ein Engel Gottes für uns! Sie betreute Noemi in der Schule, und auch bei Terminen oder für einen freien Abend konnten wir ihr Noemi mitsamt den anderen Kindern bedenkenlos anvertrauen. Leider hat diese Freundin jetzt andere Aufgaben. Deshalb sind wir auf der Suche nach einer neuen Inklusionshelferin und jemandem, der uns zuhause unterstützt. Gott weiss, was wir bedürfen, sogar bevor wir ihn bitten.

Neben Noemi habt ihr ja noch vier andere Kinder, die ihr betreuen und erziehen müsst ... Was fordert euch besonders heraus?

Susanne: Abgesehen von den alltäglichen Aufgaben, die es zu erledigen gilt, raubt mir das ständige gedankliche Umsorgen von Noemi unheimlich viel Kraft. Was braucht sie? Unternehme ich genug gegen ihre Spastik? Vernachlässige ich sie, wenn ich mir z. B. Zeit nehme, zum Trompeten-
Vorspiel von Elias zu fahren? Es ist immer wieder ein Spagat zwischen der Tortur, die ich Noemi zumute, wenn sie funktionieren muss, und der Unterstützung für die anderen.

Oder, was unternehmen wir am Wochenende? Da eine Einladung. Hier ein Wunsch unserer grossen Jungen. Und jedes Mal die Frage: Wer bleibt bei Noemi? Unser Ältester hat uns dieses Dilemma bewusst vor Augen gemalt, als er an seinem Geburtstag sagte: «Ich möchte einmal etwas zusammen als Familie machen – aber so richtig, ohne dass Mama oder Papa bei Noemi bleiben müssen.»

Wir wissen, dass wir als Eltern nie allem gerecht werden können. Deshalb fokussieren wir uns auf das Wesentliche: Unsere Kinder sollen immer spüren und wissen, dass wir sie lieben. Und Gott beschenkt uns manchmal mit Situationen, die uns ermutigen. Zum Beispiel waren wir auf einer Freizeit mit anderen gesunden und behinderten Kindern. Unser Elias durfte beim Fussball anfangen, für sein Team jemanden zu wählen. Da zeigte er auf einen Jungen mit Downsyndrom. Es war klar, dass dieser nicht die beste Verstärkung für sein Team sein würde. Aber Elias hatte ein Auge dafür, was diesem Jungen hilft.

In solchen Situationen denken wir uns: Womöglich bekommen unsere Kinder durch Noemi die Chance, besondere Anteilnahme und emotionale Intelligenz zu entwickeln. Ist das nicht vielleicht sogar mehr wert als ein ungehindertes Leben?

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 11/2020.