Wer loslässt, gewinnt! Tipps für gelingende Beziehungen – und wie Sie selbst ein geniessbarer Zeitgenosse werden können.
Nicola Vollkommer
7. November 2020

Der Verlust einer Freundschaft: Wer kennt diesen Schmerz nicht? Du hast in eine Beziehung viel investiert, aber plötzlich zieht sich die andere Person ohne ersichtlichen Grund zurück. Du musst dich damit abfinden, dass diese Freundschaft dem anderen nicht so viel bedeutet hat wie dir und du dich gewaltig verschätzt hast. Oder es wird über dich gelästert und die Freundin, der du deine Not anvertraut hast, hockt auf einmal im «anderen Lager» und macht sich hinter vorgehaltener Hand über dich lustig. Ein Freund ist verletzt, weil du seine Erwartungen nicht erfüllt hast, von denen du nicht wusstest, dass er sie hatte. Oder du teilst in einer Gebetsrunde eine persönliche Not mit, und alle schauen verlegen in die andere Richtung und gehen dir hinterher aus dem Weg.

In solchen Momenten erinnere ich mich gerne an die Witwe Naomi im alttestamentlichen Buch «Ruth». Naomis Schicksal ist eine Studie in jeder erdenklichen Variante von Beziehungsschmerz. Das jähe Ende eines mustergültigen bürgerlichen Familienlebens ist für die verwitwete Frau ein Sinkflug ins Bodenlose. Nicht nur den Tod ihres Mannes und beider Söhne hat sie zu verkraften. Dazu kommt die Aussichtslosigkeit einer Zukunft in ihrer Wahlheimat Moab, wo sie offensichtlich in keinem unterstützenden Netzwerk von tragenden Freundschaften eingebunden ist. Auch der frostige Empfang ihres alten Freundeskreises nach einer gefährlichen Reise zu Fuss zurück in ihre Heimatstadt Bethlehem (Ruth 1,19) schmerzt. Kein freudiger Willkommensgruss für die Rückkehrerin, vielleicht weil sie zu allem anderen Drama noch eine heidnische Schwiegertochter im Schlepptau hat. Die Israeliten und ihr Gott sind – mit gutem Grund – auf die Moabiter nicht gut zu sprechen. Kein Angebot einer vorläufigen Unterkunft, Mahlzeiten für die ersten Tage, einer Wohnung, in der sie sich von den Strapazen der langen Reise erholen können, oder gar einer bezahlten Beschäftigung, bis sie wieder Boden unter ihren Füssen hat. Der Name Naomi – «die Liebliche» – kommt der gebrochenen und verzweifelten Witwe wie ein Hohn vor. Sie fordert ihre Bekannten auf, sie stattdessen «Mara» zu nennen, «die Betrübte».

Es gibt Zeiten, in denen man das Leben alleine bewältigen muss. Schicksalsschläge jeder Art sind einsame Angelegenheiten. Das muss Naomi lernen.

Die Kunst, loszulassen

So seltsam es klingt: Die Fähigkeit, ohne Freundschaften auszukommen, wenn es sein muss, ist der wichtigste Schlüssel zur erfolgreichen Navigation auf dem Minenfeld der Beziehungen. Naomis verwitwete Schwiegertöchter sind bereit, sie zurück nach Bethlehem zu begleiten. Ein verlockendes Angebot. Naomi blickt einer ungewissen Zukunft entgegen, sie kann Hilfe gebrauchen. Doch sie legt den zwei Frauen nahe, sie alleine ziehen zu lassen, kann sie ihnen doch keinerlei Perspektive für die Zukunft bieten. Vielleicht spürt sie ein ängstliches Unbehagen bei ihrer Schwiegertochter Orpa, oder es wird ihr auf einmal klar, welch riesige Zumutung für die jungen heidnischen Frauen ein Umzug nach Israel ist. Orpa und Ruth sollen sich lieber um ihr eigenes Wohl kümmern. Mitten in ihrer Not denkt Naomi selbstlos an andere, bindet sie nicht an ihr eigenes Unglück. Damit gibt sie die letzte Kontrolle über ihr Leben aus der Hand, verzichtet auf ihre einzige Chance menschlicher Unterstützung und wirft sich vollständig auf die Gnade Gottes.

Für die leidende Seele ist diese Einsamkeit ein Trauma, aber für ein langfristiges Glaubensleben vermutlich das Beste, was einem passieren kann, wie der Verlauf der Geschichte beweist. Andere biblische Helden werden nicht müde, die Wichtigkeit dieser Abhängigkeit vom Herrn zu betonen. «Es ist besser, sich bei dem Herrn zu bergen, als sich auf Menschen zu verlassen» (Ps. 118,8), lautet König Davids Fazit, nachdem er reihenweise Vertrauensbrüche in seinem Freundeskreis erlebt hat. «Vertraut nicht auf Edle, auf einen Menschensohn, bei dem keine Hilfe ist!» (Ps. 146,3), schreibt er an einer anderen Stelle. «Verflucht ist der Mann, der auf Menschen vertraut!», ruft der Prophet Jeremia (Jer. 17,5), der selber zur Genüge erleben muss, wie wenig auf Menschen Verlass ist. «Lasst ab vom Menschen, in dessen Nase nur ein Hauch ist! Denn wofür ist er zu achten?» (Jes. 2,22), mahnt ein anderer Prophet, der wie seine Vorgänger auch viele einsame Tränen vergossen hat.

Jesus selber lässt die Tür zu seiner Beziehungswelt stets offen. «Wollt ihr etwa auch weggehen?», fragt er seine Jünger, nachdem seine scharf gewürzte Predigt ihnen peinlich geworden ist und viele Zuhörer in helle Empörung versetzt hat (Joh. 6,67). «Was du tust, tu schnell!», sagt er zu Judas, bevor dieser sein Vorhaben, Jesus zu verraten, in die Tat umsetzt (Joh. 13,27). Über den reichen Jüngling, der Jesus mit hängendem Kopf den Rücken kehrt, weil ihm das Opfer zu gross erscheint, schreibt Markus: «Jesus blickte ihn an, gewann ihn lieb» (Mark. 10,21) ... und schickte ihn letztlich weg.

Nie finden wir Jesus sich anbiedernd, aufdringlich oder bettelnd um Freundschaft und Treue.

Freundschaft: Anspruch oder Geschenk?

Natürlich gehören legitime Ansprüche zu Beziehungen dazu. Eltern dürfen Erwartungen an Kinder stellen, Kinder an Eltern, Eheleute aneinander, Vorgesetzte an ihre Mitarbeiter und umgekehrt. Ohne verlässliche Verhaltensregeln würde keine Gesellschaft, keine Gemeinschaft von Menschen, auch keine Familie, funktionieren. Naomi nimmt beide Schwiegertöchter zunächst mit auf die Reise zurück nach Bethlehem. Denn auch in dieser Familie gibt es Verpflichtungen, die selbstverständlich sind. Naomi verzichtet freiwillig auf die Hilfe, die ihr rechtmässig zusteht. Äussere Anpassung an Erwartungen darf eingefordert werden. Wahre Freundschaft hält die Ausgangstür aber offen. Oft vergessen wir vor lauter Bewunderung für die heldenhafte Treue von Ruth das Schicksal ihrer Schwägerin Orpa, die sich schliesslich überreden lässt, in Moab zu bleiben. Auch sie weint hemmungslos beim Abschied, auch sie hängt innig und herzlich an Naomi. Hinter den Worten von Ruth: «Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott» (Ruth 1,16), steckt offensichtlich eine bewegende Vorgeschichte. Vermutlich herrscht gerade deswegen so eine Verbundenheit zwischen diesen drei Frauen, weil Naomi grundsätzlich fürsorglich und selbstlos in der Führung ihrer Beziehungen ist, auch bevor das Schicksal zuschlägt.

Der Schlüssel zu dieser Haltung ist einer anderen Beziehung zu verdanken, die Naomi pflegt: ihrer Beziehung zum Herrn. Als die grosse, glaubensvolle Powerfrau gibt sie sich nicht. Gerade das macht Mut und gibt zu denken. Verzweifelt, niedergeschlagen, am desolaten Tiefpunkt ihres Lebens nimmt sie ihr Leid aus der Hand Gottes (1,20), versinkt jedoch nicht in Selbstmitleid, sondern denkt für Ruth mit, schickt diese mit ihrem Segen auf das Feld von Boas (2,2), begleitet ihre Geschicke mit einem wachsamen Auge und einem aufmerksamen Herzen. Sie betet, plant und glaubt mit. Wenn die Freundschaft mit Gott unsere höchste Priorität ist, sind wir in der Lage, für unsere Mitmenschen gute Freunde zu sein. Wir ernähren unsere Seele nämlich aus einer anderen Quelle und laufen weniger Gefahr, unsere Familien und Freunde mit unrealistischen Erwartungen zu belasten.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 11/2020.