Ursachen für das Phänomen unterschiedlicher Wahrnehmung.
Silke Berg
8. Mai 2020

Als unsere drei älteren Kinder vor einigen Jahren gemeinsam ein Sommercamp besuchten, machten wir anschliessend eine interessante Beobachtung: Jedes erzählte eine andere Geschichte über das, was es im Camp erlebt hatte. Dabei waren sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort, besuchten dieselben Veranstaltungen und trafen dieselben Menschen.

Vermutlich haben wir es alle schon erlebt: Da reden zwei Leute vom gleichen Ereignis, aber als Zuhörer hat man den Eindruck, es handle sich um unterschiedliche Begebenheiten. Bei extrem unterschiedlichen Sichtweisen gestaltet sich eine Eheberatung schwierig, wenn jeder behauptet, ein Ereignis habe sich so und nicht anders zugetragen. Dann ist es oft unmöglich, herauszufinden, was wirklich der Realität entspricht. Was sind die Ursachen für das Phänomen der unterschiedlichen Wahrnehmung?

Jeder ein Original!

Unser Schöpfer hat jeden von uns individuell und einzigartig geschaffen. Kein Mensch gleicht dem anderen, nicht mal eineiige Zwillinge. Sie sind sich zwar ähnlicher als andere Geschwister, aber nicht zu 100 % gleich. Jeder hat zudem eine andere Geschichte; es gibt keine Menschen mit einer absolut identischen Biografie. Wir können es bei unseren Kindern beobachten. Sie wachsen in derselben Familie auf, unter denselben Bedingungen, und trotzdem ist jedes Kind anders, besitzt eine eigene Persönlichkeit und Sichtweise.

Erlebnisse und Erfahrungen prägen uns im Laufe unseres Lebens. Wir entwickeln Einstellungen und Vorstellungen, die uns von andern unterscheiden, und wir haben uns eine «Brille» zugelegt, durch die wir uns selbst und die Welt um uns herum betrachten und beurteilen. Das heisst, was wir sehen und wahrnehmen, ist nicht nur objektive Realität, sondern oft subjektives Empfinden.

Teste deine Wahrnehmung!

Um das zu verdeutlichen, führe ich in der Beratung gelegentlich eine kleine Übung durch: Der Ratsuchende soll beschreiben, was er auf einem einfachen Bild sieht. Es ist sehr spannend, welche Geschichten dabei entstehen! Oft haben sie ein «Aha-Erlebnis», wenn sie an diesem Bild üben müssen, nur die Fakten zu benennen und nicht das Bild zu interpretieren.

Kennen Sie das Bild, auf dem zwei verschiedene Figuren (alte und junge Frau) abgebildet sind? Wer es zum ersten Mal anschaut, nimmt zunächst nur eine der beiden Frauen wahr. Es ist nicht leicht, die zweite Figur zu entdecken, wenn wir die erste klar vor Augen haben.

Eine grafische Darstellung über verschiedene Bereiche der Wahrnehmung, das sogenannte «Johari-Fenster», wurde 1955 von den amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham entwickelt (ihre Vornamen sind verantwortlich für die Namensgebung).

Der «Öffentliche Bereich» bezieht sich auf das Verhalten oder die Persönlichkeitsmerkmale, die mich charakterisieren und sowohl für mich wie auch für andere klar ersichtlich sind. Gibt ein Pianist ein Konzert, wird sowohl er selbst wie auch andere problemlos seine musikalische Stärke erkennen.

«Mein Geheimnis» umfasst Dinge, die nur ich selbst kenne: Gedanken und Wünsche, vielleicht heimliche Sünden, die im Dunkeln geschehen. Es können aber auch gute Werke sein, die ich nicht öffentlich, sondern im Verborgenen ausübe. Unter diesem Aspekt kennen mich andere Menschen nicht und beurteilen mich anders, als ich in Wirklichkeit bin. Gott aber kennt auch diesen Bereich: «Denn der Herr sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Denn der Mensch sieht auf das, was vor Augen ist, aber der Herr sieht auf das Herz» (1. Sam. 16,7).

Mit dem «Blinden Fleck» sind Merkmale und Verhaltensweisen gemeint, die mir selbst unbekannt sind, aber anderen in meiner Umgebung auffallen. Vielleicht  schätze ich mich selbst als einen geduldigen, gelassenen Menschen ein, aber meine Mitmenschen stöhnen unter meiner Hektik und Ungeduld. Oder ich habe den Eindruck, nicht gut mit Menschen umgehen zu können, doch andere bescheinigen mir eine ausgesprochene Begabung darin, Menschen in meiner Umgebung zu ermutigen und zu helfen.

Ein vierter Bereich wird mit «Unentdeckt» bezeichnet. Hier handelt es sich um Eigenschaften und Dinge, die mir selbst unbekannt sind und die auch andere an mir nicht wahrnehmen. David bittet Gott in Psalm 19,13: «Verirrungen – wer bemerkt sie? Von den verborgenen Sünden sprich mich frei!» Nur Gott kennt uns durch und durch – ihm bleibt nichts verborgen.

Eine Frage der Perspektive

Wenn zwei Menschen miteinander reden, haben sie meistens eine unterschiedliche Perspektive, weil sie tatsächlich in verschiedene Richtungen blicken. Das ist auch im übertragenen Sinn so. Wir schauen aus unterschiedlichen Richtungen auf die Dinge und kommen entsprechend auch zu verschiedenen Ergebnissen.

In Büchern über optische Täuschung findet man solch kleine Beispiele: Ein Tisch wird aus unterschiedlichen Perspektiven gezeichnet, und obwohl die Tischfläche jedes Mal gleich gross ist, erscheint der Tisch einmal länger oder breiter als der andere. Wenn wir nun die Tischplatte mit einem Lineal nachmessen, lassen wir uns von der tatsächlichen Grösse und der Tatsache, dass die Tischplatten identisch sind, überzeugen. Warum glauben wir dem Lineal eher als unseren Augen? Wir wissen, dass das Lineal ein objektiver Massstab ist, der sich, was die Längenmasse betrifft, nicht täuschen kann.

Deshalb ist es hilfreich, wenn wir auch in Bezug auf unser Leben verbindliche Massstäbe haben. So wie wir unsere Grösse und unser Gewicht nicht nach Gefühl einschätzen, sondern durch Messlatte und Waage überprüfen, sollten wir es auch in anderen Bereichen tun.

Für unsere Persönlichkeitsstruktur gibt es wissenschaftliche Tests, die anhand von Fragen unsere Persönlichkeit messen. Wir haben oft «blinde Flecken» und unser Selbstbild entspricht nicht immer der Realität. Andere würden uns häufig anders beschreiben, als wir uns selbst sehen.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 05/2020.