Der Psychologe und ehemalige US-Gesundheitsminister John W. Gardner sagte einmal: «Selbstmitleid ist mit Abstand das schädlichste nicht pharmazeutische Betäubungsmittel; es macht süchtig, beschert kurzzeitig eine Art Wohlgefühl und isoliert sein Opfer von der Wirklichkeit.»
Dabei ist eine «kleine Portion» Selbstmitleid doch ganz normal, wenn es einem schlecht geht, könnte man einwenden. Und manchmal fühlt man sich nach ein bisschen Jammern und Seufzen tatsächlich besser, ist erleichtert. Also ruhig noch einmal «Dampf ablassen» und laut stöhnen, damit es möglichst viele im Haus hören. Aber es ist nicht ungefährlich, wie bei allem, was irgendwie Erleichterung bringt: Ich brauche immer mehr davon, ich werde «süchtig»!
Schliesslich bade ich in einer grossen Wanne voller Selbstmitleid und komme selber nicht mehr heraus. Aber die Gedanken, Sorgen und Nöte sind noch da. Mit Jammern und Klagen lassen sie sich nicht vertreiben. Bei meinen Freunden und Bekannten hingegen ist mir das gelungen. Kaum einer lässt sich noch blicken. Ich fühle mich wie ein Aussätziger. Oh, wie schlecht es mir jetzt geht, alle sind gegen mich, alle haben mich verlassen: Das Selbstmitleid hat mich fest im Griff.
Ich leide an mir selbst
Niemand wird sich wünschen, so auf seine Mitmenschen zu wirken, und doch kann jeder in diese Falle tappen. Was aber ist Selbstmitleid? Es ist nicht die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen, auch nicht das ehrliche und nachvollziehbare Benennen von Schmerzen, Ängsten und Enttäuschungen. Jeder wird mich in solchen Situationen verstehen, erst recht Jesus, mein Herr, und auch mein himmlischer Vater. Aber wenn das Jammern nicht mehr aufhört und mein Leben bestimmt, dann ist die Grenze zum krankhaften Selbstmitleid überschritten. Ich erlebe mich als Opfer eines übermächtigen Feindes: Es mag Gott selbst sein, der gegen mich zu sein scheint, oder das Schicksal, die Ungerechtigkeit, die bösen Menschen oder die schlimme Krankheit, der ich schutzlos ausgeliefert bin.
Für mein Klagen und Stöhnen fühle ich mich nicht verantwortlich, das hat dieser imaginäre Feind ausgelöst. Er hat mich niedergeschlagen, mir grosses Leid zugefügt. Meiner Meinung nach bin ich völlig im Recht, jetzt haben andere die Pflicht, mir zu helfen! Ich schliesse mich in meinen goldenen Käfig des Selbstmitleids ein und lasse mich bedauern; alle sollen sehen, wie einsam ich bin und wie schlecht es mir geht. Irgendwie tut mir das gut und hält mich davon ab, selbst einen Ausweg zu suchen. Wenn mich hier niemand befreit, bleibe ich ein Gefangener meiner selbst.
Die Gefahr des Vergleichens ...
Doch wie konnte es so weit kommen? Was hat dazu beigetragen? Zunächst einmal sind wir ganz allgemein gefährdet durch den zunehmenden Individualismus unserer Zeit, oder besser gesagt: durch den persönlichen Egoismus. Die Psychologen lehren uns, dass wir zuerst an uns selbst denken sollen. Es geht schliesslich um mich! Ich muss mich selbst verwirklichen, um meine Persönlichkeit voll entfalten zu können.
Und dann lauert da noch eine grosse Gefahr für uns alle: der Vergleich mit anderen. Wenn ich mich mit anderen Menschen vergleiche, dann fast immer mit denen, die es besser haben als ich: die mehr verdienen, die ein schöneres Haus oder ein schickeres Auto haben, die besser musizieren, tanzen, Rad fahren können usw. Dieses manchmal zwanghafte Vergleichen ist der erste Schritt zum Selbstmitleid – ein «Teufelskreis», aus dem ich nur sehr schwer wieder herauskomme. Der Widersacher Gottes schürt hier geschickt Unzufriedenheit, Neid, Undankbarkeit und andere negative Emotionen. Das ist übrigens kein Phänomen der Neuzeit; es ist auch nicht auf Menschen beschränkt, die ohne Beziehung zu Gott in der Welt leben. Jeder ist zu jeder Zeit in dieser Gefahr!
Schon vor 3000 Jahren wurde ein treuer Diener Gottes davon erfasst: Asaf, ein begnadeter Musiker und Berater des Königs David. Er schildert, wie er durch den Vergleich mit erfolgreichen, aber gottlosen Menschen in eine Glaubenskrise gerät. Er versteht Gott und die Welt nicht mehr.
Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 09/2024