Vom lohnenden Versuch, in den Schuhen des Dementen zu gehen
Interview: Daniela Wagner
14. Oktober 2024

Herr Rose, Sie haben sich über die Jahre viel Erfahrung und Fachwissen zum Thema demenzielle Erkrankungen angeeignet. Was weckte Ihr Interesse an einem Thema, um das die meisten Menschen einen grossen Bogen machen?

Norbert Rose: Als Gemeindepastor begegnet man eher früher als später diesem Phänomen, das wir mit dem Begriff «Demenz» bezeichnen. Mir ging es nicht anders, als ich zu Beginn meines ersten Gemeindedienstes von besorgten Mitgliedern meiner Gemeinde vor dem Besuch einer alten Schwester «gewarnt» wurde. Sie sei schwierig und sonderbar und würde bei der leisesten Kritik sehr schnell aggressiv reagieren. Die Warnung war berechtigt: Schon bei der ersten Begegnung, die sehr persönlich, offen und vertrauensvoll begann, kippte die Stimmung bei dem Versuch, eine Aussage der alten Dame zu relativieren. Ich musste abbrechen und gehen. Das Vertrauen war mit einem Satz zerstört.

Jahre später erst verstand ich, was in diesem Gespräch geschehen war, und es tat mir unendlich leid, dass ich mit der Situation nicht besser umgehen konnte. Erst als ich mich intensiver mit demenzkranken Menschen beschäftigte, eröffnete sich mir ein ganz neues Verständnis. Spätestens als ich im Nebenauftrag die Seelsorge in einem Seniorenzentrum übernahm, wusste ich, dass ich dafür dringend eine intensive Fortbildung brauchte.

Können Sie beschreiben, wie eine demente Person die Umwelt wahrnimmt?

Man müsste eher von verschiedenen «Umwelten» sprechen. Die bekannte und gewohnte Umgebung («primäre Umwelt») wird vom Demenzkranken relativ entspannt und souverän wahrgenommen. Alles, was aus früheren Jahren bekannt ist, gibt ihm ein hohes Mass an Sicherheit und hilft ihm, seine Abläufe und Tätigkeiten ohne grössere Einschränkungen zu bewältigen. Bei vielen Erkrankten wird die demenzielle Veränderung kaum wahrgenommen, solange sie sich in ihrer vertrauten Umgebung bewegen. In den eigenen vier Wänden laufen die meisten Dinge mit einer gewissen Routine ab, die keine grosse mentale Konzentration erfordern.

Völlig anders ist die Situation, wenn sich eine demente Person in einer fremden, einer «sekundären Umwelt» bewegen muss. Der Umzug in eine andere Wohnung, in eine Pflegeeinrichtung oder gar in eine andere Stadt (weil dort vielleicht die Kinder leben) kann zu extremer Desorientierung führen. Es ist möglich, dass der demente Mensch alle paar Augenblicke verunsichert, ängstlich oder gar panisch reagiert, weil er sich nicht zurechtfindet. Alle bekannten Orientierungshilfen sind verloren. Ein Einleben, für das gesunde Menschen nach einem Umzug immer eine gewisse Zeit und «Schonfrist» benötigen, gibt es für den Demenzkranken nicht mehr, weil er nicht mehr lernfähig ist. Das bedeutet, dass neue Eindrücke und Erfahrungen nicht mehr in das Langzeitgedächtnis übernommen werden. So kann eine demente Person in ihrer gewohnten alten Umgebung völlig sicher sein, während ihr eine neue gewissermassen alle paar Minuten entfremdet wird (ist).

Ein ähnlicher Effekt kann allerdings auch in der gewohnten Umgebung auftreten, wenn die Wohnung deutlich verändert und damit ebenfalls verfremdet wird – sei es durch Renovierung, Umgestaltung, durch Entfernen gewohnter Einrichtungsgegenstände und Hinzufügen von neuem Inventar. Auch neue Nachbarn, Mitbewohner und neue Familienmitglieder, etwa wenn Kinder ihre Partner mitbringen, können eine solche Verunsicherung auslösen. Allein die Notwendigkeit, sich auf kleine Veränderungen einzustellen, stellt für den Demenzkranken eine enorme Herausforderung dar und blockiert ihn gleichzeitig für einfache und gewohnte Aktivitäten. Auch der Umgang mit modernen technischen Geräten (z. B. «einfache» Küchengeräte, TV- und Unterhaltungsmedien, Tablets, Mobiltelefone, Digitaluhren, menügesteuerte Geräte usw.) verunsichert einen dementen Menschen sehr und gibt ihm – was für ihn besonders belastend ist – das Gefühl, die einfachsten Dinge nicht mehr zu beherrschen. Dieser Zustand zu Beginn einer Demenz ist für den Erkrankten schwer zu ertragen, da er noch sehr bewusst wahrnehmen kann, wie ihn Situationen überfordern, die er eigentlich souverän bewältigen sollte.

Offensichtlich ist es mehr als Vergess­lichkeit, Zusammenhänge scheinen verloren. Was passiert im Gehirn? Was sind typische Anzeichen einer Demenz?

Als das Phänomen «Demenz» (hier ist vor allem die Demenz vom Typ «Alzheimer» gemeint, die mit ca. 55 % aller Demenzformen die häufigste ist) noch weitgehend unbekannt war, sprach man noch sehr verharmlosend von «Vergesslichkeit». Dies ist auch deshalb irreführend, weil man Vergesslichkeit in einem gewissen Alter hinnehmen kann, allerdings lässt sie sich auch durch Gedächtnistraining und Konzentrationsübungen verringern. Eine gewisse Vergesslichkeit ist eine normale Alterserscheinung, die sich mit Durchblutungsstörungen, hormonellen Schwankungen, abnehmenden Aktivitäten und Herausforderungen, zunehmenden körperlichen Einschränkungen und Kompetenzen erklären lässt.

Die Alzheimer-Demenz ist eine sehr schnell fortschreitende Degeneration im zentralen Gehirn, bei der grosse Mengen von Nerven (Neuronen) und Nervenverbindungen absterben, weil sie nicht mehr mit den lebensnotwendigen Stoffen versorgt werden. Über die Ursachen und Prozessverläufe gibt es sehr unterschiedliche Theorien. Der Prozess beginnt bereits mehrere Jahre bevor erste Anzeichen bemerkt werden, da unser gesundes Gehirn seine Gedächtnisinhalte in mehrfacher, netzwerkartiger Weise in verschiedenen Regionen speichert und «Verlorenes» noch lange wiederfindet.

Erst wenn mit dem Verfall ganze Hirnbereiche abgestorben sind und damit auch viele neuronale Netzwerkverbindungen verloren gegangen sind, wird das Ausmass der Krankheit erkennbar. Der Beginn einer Alzheimer-Demenz kann zwischen 5 und 20 Jahren vor den ersten Symptomen liegen.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 10/2024