Leben im Libanon.
Ingrid Heinzelmaier
19. September 2019

Ein HMK-Projektpartner hat eine Organisation gegründet, die sich um die unzähligen Flüchtlinge kümmert, die vor allem aus Syrien in den Libanon geströmt sind. Tagtäglich ist er mit unvorstellbarem Leid konfrontiert und erlebt gleichzeitig Gottes wunderbares Wirken: Viele Muslime werden Christen, sie erleben Heilung und Wiederherstellung. Doch wo die Gemeinde Gottes wächst, gibt es auch Verfolgung: Viele dieser neugeborenen Christen können ihren Glauben nicht ohne Weiteres in den Flüchtlingscamps bekennen.

Dr. Camille Melki, Leiter dieser Organisation, berichtet darüber in einem Interview.

Dr. Camille Melki, Sie haben selbst den Bürgerkrieg im Libanon in Ihrer Kindheit und Jugend miterlebt. Was für Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?

Dr. Camille Melki: Ja, ich war neun Jahre alt, als 1975 der Bürgerkrieg in meiner Heimat Libanon ausbrach. Immer wieder musste unsere Familie nach einem sicheren Platz für uns alle suchen. Um mich herum wurden Menschen wegen ihrer Religionszugehörigkeit entführt und getötet. Die Firma meiner Eltern wurde sieben Mal zerstört, mein Elternhaus eingeäschert. Wir hatten eine kleine Wohnung gekauft für den Anfang unserer Ehe, sie wurde zerstört. Wir wissen, wie schwer das alles ist. Den Krieg zu erleben bedeutet, zusehen zu müssen, wie liebe Menschen getötet werden oder das Zuhause zerstört wird – oder zu erleben, wie eine Familie zerstreut wird, weil jeder woanders Unterschlupf findet. Wir haben aber in dieser Zeit auch ganz besonders die Liebe von Jesus erlebt durch unsere Geschwister im Glauben. Menschen haben uns gerettet und für uns gebetet. Ich weiss, Christen auf der ganzen Welt haben für uns im Libanon den Himmel bestürmt. Ich habe also nicht nur traurige, sondern auch sehr schöne Erinnerungen an die Kriegsjahre. Es ist einfach wunderbar, wenn die christliche Gemeinde sich so liebevoll kümmert und ihre Liebe gerade denen schenkt, die am meisten verletzt wurden.

Wie lebt man mit solch schlimmen Erinnerungen weiter?

Wissen Sie, wir müssen uns entscheiden: Entweder wir wählen die Vergebung und kommen dadurch voran im Leben, oder wir entscheiden uns dafür, diesen tödlichen Hass weiter in uns zu tragen, was uns das Leben schwer macht.

Die Lage ist hart für uns Libanesen. Der Grossteil der libanesischen Bevölkerung lebt jetzt im Ausland. Auch in meiner Familie. Heute schätzt man die Bevölkerung im Libanon auf vier Millionen. Zwölf Millionen aber leben zerstreut auf der ganzen Welt.

Ich habe viel mit der Warum-Frage gekämpft. Zum Beispiel: Warum kommt immer dann ein neuer Krieg, wenn wir Libanesen die Hoffnung haben, dass es besser wird in unserem Land? Durch diesen inneren Kampf hat mein Dienst begonnen. Ich habe im wahrsten Sinne des Wortes mit Gott gestritten. Es ist aber auch ein wunderbarer geistlicher Prozess, durch den Gott meine Frau und mich geführt hat. An einem Punkt hat er uns an den blinden jungen Mann erinnert, den die Jünger zu Jesus brachten. Sie fragten ihren Meister, warum er blind ist. Bezahlt er für seine eigene Sünde oder für die Sünde seiner Eltern? Die Antwort von Jesus hat mich zutiefst verblüfft. Jesus sagte: «Keiner von beiden – aber er hat dieses Handicap, damit der Name des Herrn durch ihn verherrlicht wird.»

Wir stellen Gott unsere Warum-Fragen. Oft geht er nicht erkennbar für uns darauf ein. Der Allmächtige ist uns auch keine Rechtfertigung schuldig. Er ist der Gott des Universums und wir leben in einer zerbrochenen Welt. Unsere Frage sollte also nicht «warum» sein, sondern «wie». Wie kann Gottes Name geehrt werden mitten in aller Zerstörung und in allen Ängsten, in der zerbrochenen Welt und in dem schrecklichen Hass?

Gott möchte, dass wir die Hände und Füsse von Jesus sind. Wir können Hoffnung zu den Hoffnungslosen bringen. Wir können uns um die Hilflosen kümmern und die Liebe von Jesus vielen Menschen bringen. Unsere Arbeit wird davon angetrieben, dass wir uns eins machen mit dem barmherzigen Herzen von Jesus.

Ihre Organisation wurde lange vor der Syrienkrise gegründet. Inzwischen macht sie den Hauptteil Ihrer Arbeit aus. Können Sie uns etwas über die derzeitige Situation im Libanon berichten?

Im März 2011 – das heisst vor acht Jahren – ist der Krieg in Syrien ausgebrochen. Es ist die wohl grösste humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. In den letzten 75 Jahren hat es keinen Krieg und keine Naturkatastrophe gegeben, die mehr Zerstörung und Tote gefordert hat.
Fünf Millionen Syrer sind ins Ausland geflohen: in die Türkei, nach Jordanien, in den Irak oder in den Libanon – und von dort aus in die ganze Welt. Der Libanon aber hat die höchste Anzahl an Flüchtlingen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Bei uns leben vier Millionen Libanesen und ungefähr zwei Millionen Flüchtlinge, meist aus Syrien, aber auch aus dem Irak und aus Palästina. Das alles zusammen bedeutet, unsere Bevölkerung ist um 50 % gewachsen durch Flüchtlingsmigration. Kein Land in der Welt hat eine Infrastruktur, die das auffangen kann. Es fehlt uns an Wohnraum, Strom, Wasser, Schulen und Krankenstationen. Der Arbeitsmarkt im Libanon kann so einen Zuwachs nicht verkraften. Es sind einfach zu viele Leute in zu kurzer Zeit gekommen.

Unsere libanesische Bevölkerung ist gespalten. Einige unterstützen das Regime im Nachbarland Syrien, andere sind völlig dagegen. Das spielt eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen um unsere Migranten. Es gibt schon ein gewisses Mass an Feindseligkeit und Frustration zwischen dem Gastgeberland Libanon und der Flüchtlingscommunity in unserem Land. Manche Leute sagen sogar, nachdem Syrien uns erst fast 30 Jahre mit seiner Armee besetzt hatte, gibt es jetzt eine unbewaffnete Besatzung durch die vielen Flüchtlinge, aber mit ähnlichen Auswirkungen.

Ich glaube, viele Libanesen haben das mit der Vergebung nicht so richtig auf die Reihe bekommen – auch in den christlichen Gemeinden wäre es einfacher, über Vergebung zu predigen, wenn die Flüchtlinge wieder zu Hause in Syrien wären. Aber es ist eine andere Sache, diese Vergebung zu leben, wenn wir durch unsere alltäglichen Probleme ständig an die Flüchtlinge erinnert werden.

Vergeben ist wirklich kein Kinderspiel für uns. Es ist eine tagtägliche Prüfung. Aber Gott gibt uns die Kraft dafür. Wenn wir die christliche Gemeinde im Libanon nicht auffordern, aus der Vergebung heraus zu leben, werden wir den Auftrag von Jesus nicht erfüllen können.

Die Flüchtlinge leben also teilweise seit acht Jahren in Zeltstädten. Wie sieht es mit ihrer Integration aus?

Diese Integration ist äusserst schwierig. Alle unsere Gesetze arbeiten im Prinzip dagegen. Die syrischen Flüchtlinge dürfen bei uns nicht leben wie wir Libanesen. Sie haben keinen freien Zugang zu Bildung und nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Eine Beschäftigung zu finden, ist für sie ganz schwierig. Wir haben sie zwar aufgenommen, aber es gibt so viele Einschränkungen für sie. Das ist ein riesiges Problem. Wenn wir den einzelnen Menschen nicht ihre Menschenrechte gewähren, wächst in ihren Herzen Frustration und Zorn. Das ist ein guter Nährboden für Radikalismus und Propaganda.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 09/2019.