Nichts ist sicherer als der eigene Tod. Vorbereitet sein auf das, was in jedem Leben eintrifft.
Sabine Kähler
13. November 2019

Ein Zimmer im Krankenhaus, belegt mit drei Männern. Einem der Männer geht es nicht gut, Angehörige sind bei ihm. Sein Zustand verschlechtert sich, weitere Angehörige treffen ein. Sie verbringen die Nacht am Bett des geliebten Menschen, wachen bei ihm. Er stirbt.

Die Mitpatienten verfolgen das Geschehen, unfreiwillige Zeugen eines Abschieds für immer. Die Presse bekommt Wind von diesem Todesfall, Artikel erscheinen, Fragen werden laut. Sind das nicht unzumutbare Zustände? Gibt es für solche Situationen kein Sterbezimmer? Das Krankenhaus bezieht Stellung, in der Tageszeitung erscheinen Leserbriefe: Patienten sollten so etwas nicht erleben müssen, sie würden dadurch ihrer Hoffnung auf Genesung beraubt, solch angsteinflössende Umstände könnten die Heilung negativ beeinflussen ...

So geschehen kürzlich in einem Krankenhaus in meiner Nähe. Die Wellen schlagen hoch, die Krankenhausleitung entschuldigt sich offiziell, gelobt Besserung. Ich kann sehr gut verstehen, dass die Mitpatienten sich dieser Situation gerne entzogen hätten. Alles war sehr belastend für sie. Trotzdem frage ich mich: Hätte so ein Vorfall vor 40 oder 50 Jahren eine ebenso grosse Empörung ausgelöst? Wann haben wir den Tod aus unserer Gesellschaft und unserem Leben verabschiedet und ihm einen Bereich zugewiesen, der uns bitte nicht tangiert?

Totgeschwiegen

Der Tod ist ein unangenehmer Geselle. Am liebsten wollen wir nichts mit ihm zu tun haben und schon gar nicht über ihn sprechen. Als ich neulich eine Bekannte zu einem Frauenfrühstück mit dem Thema «Sterben ist kein Kinderspiel» einladen wollte, gestand sie mir offen: «Ich werde nicht kommen, denn damit will ich mich eigentlich nicht auseinandersetzen.»

Eine andere Situation: Die Oma spricht von ihrem eigenen, irgendwann eintretenden Tod. Das Umfeld reagiert entsetzt: «Ach Oma, sag doch sowas nicht. Du sollst noch ganz lange bei uns bleiben!» Es darf nicht sein, also darf man auch nicht darüber sprechen.

Sehr eindrücklich blieb mir folgendes Erlebnis in Erinnerung, geschehen in meinen ersten Wochen als Praktikantin in einem kleinen Krankenhaus, ich war gerade 18 Jahre alt. Einer Patientin auf der Station, die schwer an Krebs erkrankt war, konnte nicht mehr geholfen werden. Ihr Ehemann, auch die zwei Kinder im Teenageralter wussten Bescheid. Aber die Frau war nicht über ihr bevorstehendes Ende unterrichtet worden. Noch immer glaubte sie daran, wieder gesund zu werden. Die Familie hatte beschlossen, ihr diese schlimme Nachricht vorzuenthalten, aus (vermeintlicher) Rücksicht. Der Zustand der Patientin verschlechterte sich zusehends, ich war mit anderem Pflegepersonal im Zimmer anwesend. Plötzlich ergriff sie die Hand eines Pflegers, der an ihrem Bett stand, und fragte: «Muss ich jetzt sterben?» Der Pfleger hatte den Mut, die Wahrheit zu sagen, und bestätigte diese Befürchtung. Nur eine Stunde später war die Frau verstorben – sie fand keine Gelegenheit mehr, ihre Familie zu sehen, Dinge zu klären und Abschied zu nehmen.

Unser Lebenszeitkonto

Die meisten Erwachsenen besitzen ein Bankkonto und wissen in der Regel über ihren Kontostand Bescheid. Wir alle haben aber auch ein «Zeitkonto» – dort liegen unsere Jahre, Tage und Stunden. Sie fliessen dahin, jeder gelebte Tag verringert die Zeitspanne – und keiner von uns kann sagen, wie gross sein Guthaben an Lebenszeit noch ist. Denn bei diesem Konto können wir unseren Kontostand nicht einsehen. Der eine hat noch einen Zeitvorrat von vielen Jahren, bei einem anderen mögen es vielleicht Monate oder Wochen, Tage oder sogar nur noch Stunden sein. Wir wiegen uns in der (falschen?) Sicherheit, noch viel Zeit zur Verfügung zu haben – dabei kann schon morgen alles anders sein.

Werner Gitt verglich die Zeit einmal mit einem Fliessband. Wir alle sitzen auf dem «Fliessband der Zeit», fest angeschnallt, und fahren mit derselben Geschwindigkeit dahin. Die Zeit können wir nicht stoppen, nicht überspringen, nicht verleihen und nicht speichern – irgendwann haben wir unseren Platz auf dem Fliessband bekommen und irgendwann müssen wir denselben auch wieder verlassen – keiner weiss, wann.

Ein Hauch

Doch auch das längste Leben, mögen es vielleicht hundert Jahre sein, ist in den Augen Gottes wie ein Hauch. Darauf weist uns die Bibel immer wieder eindrücklich hin, z. B.: «Der Mensch gleicht einem Hauch, seine Tage sind wie ein flüchtiger Schatten» (Psalm 144,4), oder: «Die Tage des Menschen sind wie Gras; er blüht wie eine Blume auf dem Feld; wenn ein Wind darübergeht, so ist sie nicht mehr da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr» (Psalm 103,15–16). (Siehe auch: Psalm 39,6; Ps. 90,10; Psalm 89,48; Hiob 7,6–8).

Keine Angst?

Junge Menschen fühlen sich oft unverwundbar, der Tod scheint meilenweit entfernt. Manch einer geht dabei Risiken ein und rechnet nicht wirklich mit negativen Folgen seines manchmal leichtsinnigen Handelns. Die Devise: Mir passiert schon nichts. Das Lebensmotto: Alle anderen sterben, nur ich nicht, zumindest jetzt noch nicht! Meistens stimmt das so – aber wir alle wissen, dass der Tod auch junge Menschen trifft. Ich erinnere mich an Martin, tödlich verunglückt mit dem Motorrad. Sebastian, als Beifahrer im Auto ums Leben gekommen. Clemens, an Leukämie gestorben. Sie wären heute etwa so alt wie ich.

Keine Zeit?

Menschen mittleren Alters sind oft zu beschäftigt. Die Anforderungen des Lebens, Arbeit und Karriere, Familie, Kinder, Haus ... nehmen sie in Anspruch. Um sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, hat man ja, so denkt man, auch im Alter noch Zeit. Ein plötzlicher Todesfall im Bekanntenkreis, ein Beinahe-Unfall oder eine überstandene Krankheit rütteln an unserer vermeintlichen Sicherheit, führen uns vor Augen, dass es auch in unserem Leben eine letzte Stunde geben wird.

Aber so schnell und heftig, wie uns diese Erkenntnis überfällt, ist sie auch wieder verschwunden, verdrängt und vergessen.

Keine Worte?

Leider fällt es auch älteren Menschen nicht leicht, über das Sterben zu sprechen und sich der eigenen Endlichkeit zu stellen. Eine Frau berichtete vom Tod ihres Mannes. Verwundert und traurig musste sie feststellen, dass eine ihrer besten Freundinnen sich weder bei ihr meldete noch zu Besuch kam – erst Wochen nach dem Todesfall konnte sie sich dazu aufraffen. «Ich wusste nicht, was ich sagen sollte», lautete die verlegene Antwort auf die Frage, warum sie so lange nicht gekommen sei. Auch als ältere Frau hatte sie nicht gelernt, sich dem Schmerz zu stellen, den ein Todesfall mit sich bringt, geschweige denn die Spannung auszuhalten, die in der Erkenntnis liegt, dass auch der eigene Tod irgendwann bevorsteht. «Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss», sagt der Volksmund. Womit ich mich nicht beschäftige, lässt sich besser verdrängen – oder sogar leugnen.

Ein Geheimnis

Ich hatte einige Male das Vorrecht, Menschen auf ihrem Weg in die Ewigkeit zu begleiten – ein einzigartiger und geheimnisvoller Moment, wenn eine Seele geht und der Mensch, mit dem man eben noch sprach, nicht mehr ist und nur die vergängliche Hülle zurückbleibt. Man möchte begreifen, sehen und verstehen, den Vorhang beiseiteschieben, den uns unser begrenzter Geist auferlegt – unmöglich. Was bleibt, ist eine leise Ahnung, ja eine Gewissheit, dass es mehr gibt, als unsere Augen wahrnehmen und unser Verstand erklären kann.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 11/2019.