Thomas Castelberg verliert früh seine Eltern. Es scheint, er sei unter keinem guten Stern geboren. Doch er ist sich immer sicher: «Da ist ein allmächtiger Gott, der über mir wacht.»
Daniela Wagner
8. Dezember 2020

Ihr Vater starb vor Ihrer Geburt an einem Herzinfarkt. Was für Erinnerungen haben Sie an Ihre frühe Kindheit? Herrschte da das Gefühl von «Verlust» vor?

Thomas Castelberg: Für mich war es normal, ohne Vater aufzuwachsen, ich kannte es nicht anders. Meine Mutter, eine «Kultur-Christin», nahm mich jeden Sonntag mit in die Kirche in Arosa. Als kleiner Junge verstand ich nicht wirklich viel, aber ich merkte, Gott gibt es. Er ist da, auch wenn ich ihn nicht sehe. Meine Mutter vermittelte mir: «Gott ist ein liebender Gott, der dich sieht und beschützt. Dein Papa ist wahrscheinlich eines dieser Lichtlein bei den Sternen und schaut auf dich runter.» Es ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen, dass ich nachts zu den Sternen aufgeschaut habe.

Ihre Mutter klagte Gott also nicht an, weil sie ihren Mann so früh verloren hatte und Sie nun als Witwe aufziehen musste?

Nein, nie! (steht auf, holt das Fotoalbum) Hier giesse ich die Blumen auf dem Grab meines Vaters. Es sind gute Erinnerungen ... Meine Mutter war nach seinem Tod nicht frustriert, sie ging weiter, nahm es an. In mancherlei Hinsicht war sie besonders, eine Powerfrau! Sie hat Lokalpolitik gemacht – damals noch eine Männerdomäne –, war eigenständig und zufrieden. Eine wunderbare Mutter ...

Dann, Sie waren gerade mal elf Jahre alt, verloren Sie auch noch Ihre Mutter. Sie starb an einer Hirnblutung. Keine Zeit, Abschied zu nehmen. Ohne Eltern standen Sie da. Sie müssen sich auf dieser Erde alleine und verlassen gefühlt haben.

Wie gesagt, dieses fest verankerte Wissen, Gott schaut auf mich, war meine Grundlage. Eines Tages klagte meine Mutter über Kopfschmerzen und legte sich früh schlafen. In der Nacht weckte sie mich auf und bat mich, den Arzt zu rufen, sie halte es nicht mehr aus. Mit dem Krankenwagen wurde sie zuerst nach Chur ins Spital gebracht und dann weiter ins Unispital Zürich. Die Familie des Arztes nahm mich auf, sein Sohn war mein bester Freund. Meine Mutter lebte noch drei Tage; meine Hoffnung ist, dass sie noch erkennen durfte, wer Jesus ist. Gott hat Mittel und Wege ... Ich konnte sie aber nicht mehr besuchen.

Wir sassen beim Mittagessen, als meine Tante und mein Onkel mit der Nachricht kamen, dass Mama gestorben sei. Dieser Moment ist mir noch sehr präsent. Das war für mich das Ende. Ich hatte eine sehr gute Beziehung zu meiner Mama, sie bedeutete mir so viel! Ja, in diesem Moment brach meine Welt zusammen, und doch wusste ich sofort: Ich bin nicht allein. Ich kam dann in die Familie meiner Tante. Hätte ich wählen können, wäre das mein Wunsch gewesen. Mit meinen zwei Cou-sins, Jungs in meinem Alter, verband mich eine tiefe Freundschaft. Meine Mama und ich sind oft mit der Familie in die Bündner Berge in den Urlaub gefahren. So wurde ich mit elf Jahren Teil dieser Familie, die mich wie ihr eigenes Kind aufnahm, und ich bekam zwei Brüder, mit denen mich bis heute viel verbindet. Ich war ein recht angepasster Junge, der wohl kaum Probleme machte. Der Familie gegenüber fühlte ich Dankbarkeit.

Meine Verwandten hatten auch keine persönliche Beziehung zu Jesus, waren aber gottesfürchtig und nahmen uns drei Jungs mit in die Kirche. Über vielem hat Gott seine Hand gehalten, das sehe ich im Nachhinein so klar! Vielleicht starb meine Mutter, damit ich in diese Familie kam, weg von Arosa nach Chur. Ich hätte sonst nicht Jura studieren können, wäre nicht Anwalt geworden ... das war Gottes Weg.

Doch damals war Jura noch kein Thema. Ihr Interesse galt der Wissenschaft der Gestirne. Der Nachthimmel übte eine starke Faszination auf Sie aus – und tut es bis heute …

Ja. Bereits als kleiner Junge löcherte ich meine Mutter mit Fragen wie: «Was wäre, wenn nichts wäre, wenn es diese Welt nicht gäbe? Es müsste ja doch was sein. Wie ist dann diese Welt entstanden?» Solche Gedankengänge trieben mich fast in den Wahnsinn und ängstigten mich auch teilweise. Meine Mutter schickte mich zum Pfarrer, der müsse das wissen. Er schenkte mir eine Kinderbibel und meinte: «Da kannst du es nachlesen.» Ich war enttäuscht, weil es nicht die Antwort war, die ich erwartet hatte. Es war für mich in dem Sinn keine genügende Erklärung. Erst viele, viele Jahre später, mit 45 Jahren, merkte ich: Doch, die Bibel liefert eine genügende Erklärung, es braucht nicht mehr. Damals hätte ich Gespräche darüber gebraucht, wer Gott ist, was die Bedeutung vom Tod Jesu und seiner Auferstehung für mich ist. Davon habe ich leider weder in der Kirche noch sonst wo gehört.

So wollte ich die Zusammenhänge verstehen und wissen, wie das Universum aufgebaut ist. Mit 13 Jahren erhielt ich mein erstes Teleskop, mit 14 gründete ich einen Astronomie-Verein mit. Das Hobby professionalisierte sich rasch. Als ich 16 Jahre alt war, fand ich Mitstreiter, und wir organisierten in Arosa eine Astronomie-Woche mit international bekannten Wissenschaftlern vom «Max-Planck-Institut» und der «ETH Zürich», welche eine Woche zu Amateur-Astronomen und einem Laienpublikum sprachen. Es wurde eine «grosse» Sache. Einmal war auch Claude Nicollier (Astronaut, bis jetzt einziger Schweizer, der den Weltraum besuchte) dabei, eines meiner grossen Vorbilder. Er schenkte mir sein Buch und signierte es: «Derselbe Traum, andere Mittel – viel Glück in Ihren Unternehmungen.»

Mein Interesse und Wissen über die Astronomie wurde immer grösser, aber für mich war Wissenschaft und Gott nie ein Widerspruch. Mir war klar, es gibt Gott, es braucht einen Gott. Ich hatte nie ein Problem mit religiösen Fragen, ich staunte über alles, was Gott geschaffen hat – ich staune noch heute darüber. Inzwischen habe ich viele wissenschaftliche Bücher gelesen, die das «Wie» erklären und beschreiben, aber die Wissenschaft hat keine Antwort zum «Warum». Doch das war eigentlich die zentrale Frage, die mich interessierte, die mich umtrieb, damit hängt der Sinn des Lebens zusammen. Das erklärt nur die Bibel.

Weshalb haben Sie Jura und nicht Astronomie studiert?

Weil mich Jura auch sehr interessierte und ich wusste: Wenn ich Astronom werde, kann ich wahrscheinlich nicht in der Schweiz bleiben – es gibt hier zu wenige Stellen. Aber ich hatte das Privileg, zwei Jahre im Nebenfach das Grundstudium in Astronomie zu belegen. Eigentlich gibt es keine Juristen, die im Nebenfach ein naturwissenschaftliches Fach betreiben, doch der Vorsteher der «Universität Bern» kannte mich durch die internationalen Astronomie-Wochen und machte es möglich. Heute bin ich neben meiner Tätigkeit als Rechtsanwalt auch noch Demonstrator auf der Sternwarte in Falera, und so immer wieder in Kontakt mit Astronomen. Zwischen den Amateuren und den Wissenschaftlern gibt es keine Konkurrenz, die Hobby-Astronomen liefern mit ihren Sternwarten sehr wertvolle Beiträge für die Profis, da diese viel zu wenig Kapazitäten für ausgiebige Beobachtungen haben. So sind unsere gesammelten Daten für sie ein wichtiger Teil ihrer wissenschaftlichen Erhebungen.

Was war mit der Sinnfrage? Gingen Sie der weiter nach? Und was für eine Rolle spielte Gott in Ihrem Leben?

Anfangs war da noch stark das Bewusstsein, dass Gott wohl einen Plan hat mit meinem Leben und ich letztlich alles ihm verdanke, doch fast unmerklich entfernte ich mich mehr und mehr von ihm. Ich machte an der Uni Bern das beste Lizenziat meines Jahrgangs, bekam in der grössten Anwaltskanzlei in Graubünden eine Arbeitsstelle und das Anwaltspatent stand bevor.

So war da bei mir natürlich die Gefahr einer gewissen Arroganz. Ich hatte einen guten Uniabschluss, war gefragt und dachte, ich schaffe dieses Anwaltspatent mit links. Ich hatte ein Lerngruppe, erklärte den anderen, wie es geht – doch dann fiel ich hochkant durch die zehnstündige schriftliche Prüfung. Demütigung pur! Alle meinten, da ist etwas komisch, da muss etwas sein, das gibt es eigentlich nicht; ich musste nochmal antraben. Ich schämte mich, aber es tat mir so was von gut!

Damals war ich nicht gläubig, aber ich glaubte an die Existenz Gottes und sagte ihm: «Wenn du willst, dass ich Anwalt werde, dann musst du schauen, dass ich es bestehe, sonst hast du was anderes für mich.» Für mich war so klar, dass Gott einen Weg mit mir hat, und ich war eigentlich auch bereit für seinen Plan, aber es war so perfide ... Die Arbeit, die Familie – du willst immer mehr: ein Haus, den Kindern was bieten ... Der Druck nahm mehr und mehr zu und der Glaube wurde langsam aber stetig zur Nebensache, bis er irgendwann gar keine Sache mehr war. Meine Frau und ich «glaubten» an Gott, wir dachten, das genügt. Wofür Jesus, das war mir nicht klar, auch nicht, dass er auf unsere Umkehr zu ihm wartet.

Mit vierzig Jahren bezeichneten Sie sich dann aber als Atheist. Wie kam der Sinneswandel?

Die «Midlife-Crisis» traf in gewisser Form zu. Heute kenne ich einige Kosmologen, die absolut überzeugt sind, dass es Gott geben muss. Doch während und nach meinem Studium kamen mir fast ausschliesslich Bücher von atheistischen Wissenschaftlern in die Hand. Ich war frustriert, dass sie so ein negatives Gottesbild hatten. Sie postulierten, der Mensch könne alles ohne Gott erklären – was natürlich völliger Blödsinn ist. Ich las dann Bücher von Astronomen, die von sich sagten, sie seien Christen, doch in deren Bücher fand ich nicht die Antworten auf meine Fragen, eher pantheistische Ansätze.

Ich betete nicht mehr, nur noch abends mit den Kindern, und eines Tages beschloss ich, von nun an Atheist zu sein. Das schien mir einfacher und angenehmer: möglichst viel Urlaub an schönen Orten machen, für die Familie sorgen, den Idealismus für meine Arbeit – das reichte mir. Mit diesem Entscheid hörte ich auf, mich für Leute einzusetzen, die kein Geld für einen Anwalt haben. Es gab genügend lohnende Mandate. Lange genug hatte ich «Gutes getan» für Mittellose.

Ich kam immer mehr auf einen hedonistischen Egotrip: Geld verdienen, geniessen, denn morgen sind wir tot.

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 12/2020.