Verlieren – und trotzdem gewinnen.
Inge Fischer
19. September 2016

Wissen Sie, mit welchem Trick sich ein Affe fangen lässt? Man nimmt ein Glas mit einer engen Öffnung und legt ein paar Nüsse hinein. Hat der Affe diese entdeckt, wird er gierig ins Glas greifen und versuchen, möglichst viele Nüsse mit seiner Faust zu packen. Nun bekommt er aber die Hand nicht mehr aus dem Glas, ausser er würde die Nüsse wieder loslassen. Dann könnte er fliehen und wäre frei. Das tut er aber nicht. Nun ist es für den Jäger ein Leichtes, den Affen zu fangen.

Wie kann man nur so dumm sein, denken Sie vielleicht amüsiert. Aber Hand aufs Herz: Verhalten wir uns nicht oft genauso? Krampfhaft versuchen wir unsere «Nüsse» festzuhalten, seien es Gewohnheiten, Pläne, Ansprüche, Vorstellungen oder eine vertraute Umgebung. Besonders schwer tun wir uns damit, wenn wir unsere Gesundheit, unsere Kraft und Jugend oder geliebte Menschen loslassen müssen.


Eine Lebensaufgabe

«... Tag und Nacht kreisten meine Gedanken um die erdrückende Nachricht des Arztes: ‹Ihr Sohn hat Krebs›.» Es wurde still an unserem Kaffeetisch, als Renate erzählte: «Was der Arzt noch über mögliche Behandlungen und Heilungsaussichten sagte, konnte ich nicht mehr aufnehmen. Ich war wie erstarrt. Nachts lag ich wach. Essen konnte ich auch nicht mehr. Mein Magen war wie zugeschnürt. Mein Innerstes wehrte sich gegen diese Realität. Das darf doch nicht wahr sein! Er ist erst 22 Jahre alt. Wir hatten doch noch so viele Pläne für die Zukunft ...!»

So hart wie Renate kann es jeden von uns treffen. Aber selbst, wenn wir mit nichts Derartigem konfrontiert sind, befinden wir uns alle in einem Prozess des Loslassens.

Kleine Kinder lernen zuerst das Zupacken, das Greifen und das Festhalten. «Das ist meins ...», «... das gehört mir ...», verteidigen sie das eben ergatterte Spielzeug und weigern sich standhaft, es loszulassen. Abschiednehmen und Loslassen müssen wir trotzdem bald lernen – und zwar in jedem Alter! Manchen Menschen fällt das, je nach Typ oder Prägung, ungemein schwer.


Falsche Sicherheiten

Jeder Deutsche besitzt etwa 10 000 Dinge. In vorindustriellen Zeiten waren es im Durchschnitt nur 300. Seltsam eigentlich, dass heute, wo alles im Überfluss vorhanden und somit schnell abrufbar ist, die Menge an Gegenständen ständig wächst. Aber es handelt sich ja nicht nur um materielle Dinge, die wir besitzen oder meinen, sie zu besitzen.

Vor mehreren Jahren zog ich von einem Bundesland in ein anderes. Das bedeutete für mich, alles mir Vertraute loszulassen: Arbeitsplatz, Kollegen, Freunde, Gemeinde, eine Stadt, in der ich mich wohl fühlte, den mir vertrauten Alltag. Zum äusseren Loslassen gesellten sich innere Unruhe und auch Ängste: Wie wird es werden? Ob der Neustart gelingt? ...

Dabei wurde mir bewusst: Loslassen fällt mir auch deshalb schwer, weil ich z. B. meinte, mit der bisher bekannten Situation in grösserer Sicherheit zu sein als mit einer neuen, unbekannten.

Wie steht es mit materiellen Dingen? Ist es nicht häufig so, dass wir Halt, Anerkennung oder Prestige von solchen Dingen erwarten bzw. umgekehrt glauben, ohne ein bestimmtes Mass an Besitz oder Reichtum würden wir all das einbüssen? Wenn wir so denken, schreiben wir im Tiefsten Materiellem oder Menschen Sicherheit, ja letztlich unsere Bedeutung, zu.


Nicht ohne Schmerz

Am meisten leiden wir darunter, Menschen ziehen zu lassen, die uns lieb sind. Die Kinder nabeln sich mehr und mehr ab, sie tauschen manche Dinge jetzt mit Gleichaltrigen aus, treffen sich an Wochenenden mit Freunden. Viele Mütter spüren unsäglichen Schmerz, wenn die Tochter oder der Sohn wegen des Studiums in eine andere Stadt umzieht oder das letzte Kind das Haus verlässt und eine Familie gründet. Loslassen ist wahrlich nicht einfach! Es tut weh und kann seelisch und sogar körperlich schmerzen. Wie sehr, weiss auch jeder, dessen Ehe oder eine langjährige Freundschaft zerbrochen ist.

Was, wenn ganz unerwartet – so wie in Renates Familie – eine schwere Krankheit diagnostiziert wird, ein Leidensweg bevorsteht und ein gutes Ende mehr als ungewiss ist? Wie soll man damit umgehen, wenn der geliebte Ehepartner plötzlich aus dem Leben gerissen wird? Der Arbeitsplatz gekündigt oder die Aufgabe, die einen erfüllte, an jemand anderen übergeben wurde?

(Artikelauszug aus ethos 09/2016)