Viele junge Frauen sind unzufrieden mit ihrer äusseren Erscheinung und ihrem Gewicht. Dünnsein ist «in». Eine erschreckend hohe Zahl von ihnen leidet an Essstörungen, an Anorexie oder Bulimie. Was führt einen Menschen dazu, sich selbst zu zerstören? Sich zu Tode zu hungern? Langsam, stetig, beharrlich? Ist Befreiung, Heilwerden möglich?
Yvonne Schwengeler
8. Juni 2016

Tabea ist auf dem Weg zur Apotheke. Sie will ein starkes Abführmittel kaufen und hofft, damit die Kalorien loszuwerden, die sie sich am Mittagstisch einverleibte, gezwungenermassen! Die Mutter hatte ihr geschöpft, obwohl sie mehrmals intervenierte. Nach dem Essen ging sie aufs Klo, beugte sich über die WC-Schüssel und steckte sich den Finger in den Hals. Tabea würgte und würgte, aber der Erfolg blieb aus. Fast panisch steigt sie aufs Rad und radelt zur Apotheke.

Als sie am Morgen auf die Waage gestanden war, zeigte der Zeiger auf die gleiche Zahl wie gestern. Tabea war frustriert und beschloss, am Abend nichts mehr zu essen und stattdessen joggen zu gehen, die doppelte Strecke wie üblich.

Danach schluckte sie die Abführtropfen und legte sich ins Bett. Zuvor aber stand sie erneut auf die Waage, zum siebten Mal an diesem Tag. Sie kam sich vor wie ein aufgeblasener Ballon, dick und unförmig.

Die Besorgnis der Eltern über ihr Essverhalten versetzte Tabea in Wut. Sie wollte selbst bestimmen, was sie ass! Wieso mischten sie sich ständig ein? Diese kontrollierenden Blicke ihrer Mutter, sie gingen ihr so auf die Nerven! Der Mittagstisch war eine Qual. Wie sie alle das Essen verschlangen – widerlich!  Kein Wunder, dass die Mutter «Pirellis» um die Hüften hatte. Tabea aber hatte sich unter Kontrolle. Nie wollte sie so werden wie andere Frauen. Sie verabscheute breite Becken, runde Hüften und hervorquellende Brüste, einen
dicken Po. Sie wollte bleiben, wie sie war, rank und schlank wie ein kleines Mädchen.

Mehr und mehr isolierte sich Tabea von ihrer Familie und von ihren Freunden. Die hatten sie anfänglich bewundert für ihre schlanke Figur, tuschelten nun aber hinter ihrem Rücken. Tabea verlor das Interesse an ihrer Umgebung, mied die Freunde und beschäftigte sich nur noch mit Kalorien und körperlicher und geistiger Leistung.

Am Gymnasium war Tabea Klassenbeste, und das nicht nur im Sport. Stets wollte sie besser, willensstärker, disziplinierter sein als andere. Das gab ihr ein gutes Gefühl, ein Gefühl von Überlegenheit und Macht. Sie hatte sich selbst und ihren Körper unter Kontrolle.
Das erfüllte sie mit Genugtuung. In jeder Beziehung wollte sie perfekt sein: perfekter Körper, perfekte Noten, perfekte sportliche Leistungen. Da war dieser Zwang, sich ständig zu bewegen, zu rennen statt zu gehen, zu stehen statt zu sitzen, zu hüpfen statt zu schlafen. Diese innere Stimme, diese Sklaventreiberin, die Tabea keine Ruhe liess, Tag für Tag.

Tabea spürt, wie das Abführmittel seine Wirkung tut. Es rumort in ihrem Bauch. Morgen würde der Zeiger der Waage wieder nach unten rutschen! Nach dem Gang aufs WC steht Tabea vor dem Spiegel. Sie nimmt die herausstehenden Beckenknochen nicht wahr, den ausgemergelten, abgemagerten Körper, die spindeldürren Beine und Oberarme. Ihre Finger umfassen eine Hautfalte im Bauch, was sie in Panik versetzt: Sie war fett! Ekel erfasst sie.

Obwohl der Hunger sie quält und sie entsetzlich friert, stellt sie sich neben das Bett und macht ihre Sit-ups ... 59, 60 ... 78, 79, 80. Dann 30 Liegestützen, 15 Minuten hüpfen. Erschöpft sinkt sie zu Boden. Ihr ist schwindlig, aber sie ist mit sich zufrieden. Sie hat durchgehalten. Und eines ist sicher: Sie will nie wieder zunehmen!


Sucht – der unstillbare Hunger

Fast jede Sucht ist Ausdruck eines Mangels, vor allem ein Mangel an Liebe, Annahme und Bedeutung. Wo diese lebenswichtigen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, versucht der Mensch, sich auf irgendeinem Gebiet dafür zu entschädigen

Im Wort «Sucht» steckt sowohl der Begriff «suchen» wie auch «siechen». Das deutet darauf hin, dass Süchte krank machen, krank an Leib und Seele. Man siecht dahin, es ist wie ein langsames Sterben.

«Sucht ist», wie Michiaki Horie es ausdrückt, «das Suchen, das ohne Erfüllung zu finden, sich und andere kaputt macht.

(Artikelauszug aus ethos 06/2016)