In westlichen Gesellschaften herrscht keine Einigkeit mehr darüber, was unter dem zentralen Begriff der Menschenwürde zu verstehen ist, der im Grundgesetz Deutschlands und vielen internationalen Abkommen einen zentralen Stellenwert einnimmt.
Professor Dr. Ulrich Eibach
6. August 2016

1. Die religiöse Begründung der Menschenwürde von der Gottebenbildlichkeit des Menschen her ist gesellschaftlich nicht mehr konsensfähig. Stattdessen ist ein Konzept entstanden, das den Lebenswert von der Lebensqualität ableitet.

Die Säkularisierung und die Pluralisierung der Lebens- und Wertvorstellungen haben es mit sich gebracht, dass jede religiöse und nicht empirische Begründung der Menschenwürde als rational nicht begründbare und gesellschaftlich nicht mehr konsensfähige «Sonderethik» abgelehnt wird. Wenn das diesseitige Leben aber kein «Jenseits» mehr hat, dann wird auch unklar, welchen Sinn ein Leben hat, das von schwerer unheilbarer Krankheit und dem «Abbau» von Hirnfunktionen gekennzeichnet nur noch auf seinen Tod zuläuft. Unklar ist dann auch, ob es sich bei diesem Leben noch um ein «lebenswertes» Leben handelt. Insbesondere Philosophen und auch Juristen der empiristischen Denkrichtung behaupten, dass Mensch im Sinne von Person nur dasjenige biologisch von Menschen abstammende Leben sei, das über empirisch feststellbare körperliche und vor allem seelisch-geistige Qualitäten (wie Selbstbewusstsein, bewusste Interessen, Autonomie usw.) verfüge.

Menschenwürde komme nicht dem ganzen menschlichen Leben, dem «Lebensträger» (=Organismus, Leiblichkeit), sondern nur diesen geistigen Fähigkeiten zu, die weitgehend unversehrte Hirnfunktionen zur Voraussetzung haben. Werden die Funktionen des Gehirns schwer geschädigt, so mindert sich die Menschenwürde entsprechend. Die Menschenwürde und mit ihr das Recht auf Schutz des Lebens geraten dann sogar in Verlust, Leben werde zum bloss «biologisch-vegetativen» Leben, wenn der Mensch sein Selbstbewusstsein verliert. Man vertritt also das Konzept einer nach Lebensqualitäten abgestuften Wertigkeit des Lebens. Demnach soll es bloss biologisch menschlichen Leben geben, dem wegen fehlender spezifisch menschlicher Lebensqualitäten keine Würde zukommt. Je mehr sich diese Qualitäten entwickeln, umso mehr soll der Wert und mit ihm die Würde des Lebens zunehmen. Man vertritt damit das Konzept einer nach Lebensqualitäten abgestuften Wertigkeit und Würde des Menschenlebens.
 

2. Daraus werden neue Begriffe wie «Präimplantationsprodukte» oder «human being» abgeleitet, die besagen, dass es hier nicht eigentlich um einen Menschen geht.

Die entscheidende Weichenstellung hin zur Vorstellung von menschenunwürdigem Leben ist damit vollzogen, dass man Menschenwürde und Personsein als empirisch feststellbare geistige Qualitäten versteht, die nicht zugleich mit dem biologisch-menschlichen Leben gegeben sind (z. B. bei Embryonen, Föten). Sie sollen erst im Laufe der Lebensentwicklung auftauchen oder
sie entwickeln sich überhaupt nicht (hirnorganisch geschädigt geborene Kinder) oder sie geraten durch Krankheit und altersbedingten «Abbau» in Verlust. Diese Auffassungen wurden vor allem in der auf die empirisch wahrnehmbare Welt ausgerichteten angelsächsischen Philosophie vertreten, die die internationale Diskussion über Bioethik beherrscht. Auf diesem Hintergrund stellt es kein Problem dar, von frühen Embryonen als «Präimplantationsprodukten» und von hirnorganisch schwer geschädigten und «abgebauten» Menschen als «human vegetable» oder «persistant vegetative state (PVS)» zu sprechen. Selbst die Begriffe «human life» und «human being» besagen – so wie sie im «Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin» des Europarats gebraucht werden – nicht, dass es sich dabei um «Personen» handelt, denen Menschenwürde zukommt.

(Artikelauszug aus ethos 8/2016)