Unter grossem Kraftaufwand meldet sich die beliebte ethos-Autorin nochmals zu Wort und lässt teilhaben an ihrem Erleben. Ein kostbares Vermächtnis – Teil 1.
Irmgard Grunwald
2. Juni 2017

Die Ausgangssituation
Früher immer aktiv in Familie und Gemeinde, sitze ich seit 2004 nur noch im Rollstuhl. Die unheilbare, fortschreitende und tödlich verlaufende Erkrankung ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), diagnostiziert im Jahr 2001 im Alter von 40 Jahren, bewirkt fortschreitende Lähmungen im ganzen Körper. Durch einen Defekt in den motorischen Nervenzellen kann die Muskulatur nicht mehr angesteuert werden, die Muskeln degenerieren. Arme und Beine, Füsse und Hände werden völlig unbrauchbar; auch die Atemmuskulatur ist betroffen, und ich muss inzwischen 24 Stunden am Tag maschinell beatmet werden. Die Krankheit macht mich bei allen körperlichen Bedürfnissen abhängig von anderen Menschen wie ein neugeborenes Baby – Hilflosigkeit ist mein ständiger Begleiter geworden.

Seit circa zwei Jahren geht ausserdem – bedingt durch den Abbau der Muskulatur im Gesicht und im Mund – meine Sprechfähigkeit immer weiter zurück, die mündliche Kommunikation ist entsprechend stark eingeschränkt. Das Sprechen fällt mir sehr schwer und die Artikulation ist zunehmend undeutlich. Leider ist auch das Schlucken dadurch ziemlich stark beeinträchtigt.

Glücklicherweise ist das Gehirn kein Muskel ... und so kann ich dank modernster Computertechnik durch leichte Kopfbewegungen weiterhin meinen Laptop steuern und selbständig Texte schreiben.

 

Prüfungszeit in der Schule Gottes

Paulus schreibt: «Und er (Gott) hat zu mir gesagt: Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung. Sehr gerne will ich mich nun vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Misshandlungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark» (2. Korinther 12,9–10).

Anfang Januar 2017 lasen mein Mann und ich in unserer gemein-samen Stillen Zeit einige Abschnitte aus dem Buch Hiob. Diese faszinierenden Schilderungen der absoluten Souveränität Gottes einerseits und der schrecklichen Leiden des gottesfürchtigen Hiob andererseits gehen unter die Haut.

Wir stolpern über eine provozierende, aber auch Mut machende Aussage von Hiob:

«Das Gute nehmen wir von Gott an, da sollten wir das Böse nicht auch annehmen?» (Hiob 2,10).

Natürlich muss ich das persönlich nehmen. Unwillkürlich stellt sich die Frage: Will Gott wirklich, dass ich krank bin? Ich wage eine Gegenfrage: Ist denn eine Krankheit immer ein Feind, der verbissen und mit allen Mitteln bekämpft werden muss? Hat sie vielleicht manchmal einen verborgenen Sinn?

Jeder Mensch hat natürlicherweise den Wunsch, von schweren Leiden verschont zu bleiben und möglichst gesund zu sein – und dagegen ist nichts einzuwenden. Doch ob man gesund ist oder krank, jung oder alt, jeder Mensch ist ständig damit konfrontiert, dass er sterblich ist. Jeder kann einen Unfall haben, eine tödliche Krankheit bekommen. Eigentlich ist der Tod nur eine Frage der Zeit. Die Frage stellt sich jedem Menschen – mir stellt Gott sie seit der Diagnose ALS immer wieder. Ich kann dadurch intensiv über Leben und Tod nachdenken.

Mit Hiob stelle ich fest: Kein einziger Mensch hat irgendwelche Ansprüche Gott gegenüber. Ebenso wenig wie Hiob haben wir als Christen ein Recht darauf, vor Unheil bewahrt zu werden. Wir können nicht den Anspruch geltend machen, von Krankheit geheilt zu werden. Gott ist in seinen Entscheidungen völlig souverän und absolut nicht dazu verpflichtet, uns auf unserem Lebensweg alle Steine aus dem Weg zu räumen. Vielmehr dürfen wir im Umgang mit herausfordernden Lebenssituationen geistlich immer mehr wachsen.

Aber es wird auch deutlich: Dieser «Prototyp» des leidenden Menschen im Alten Testament, Hiob, war nicht das «Opfer» einer schweren Strafe Gottes. In den ersten Kapiteln des Buches Hiob
gestattet uns Gott einen Einblick in seine Gegenwart, und wir können die erstaunliche Feststellung machen, dass der Satan Zutritt zu Gott hat und darüber hinaus von Gott die Erlaubnis bekommt, Menschen leiden zu lassen – um sie zu einer Reaktion Gott gegenüber zu provozieren.

Es ist keine neue Erkenntnis, sondern eine tausendfache Erfahrung: Gott kann das Leid in meinem Leben zu einem bestimmten Zweck benutzen, zum Beispiel zu meiner Erziehung. Hiob ist ein sehr hilfreiches Beispiel in dieser Beziehung. Einen Schicksalsschlag nach dem anderen hat er innerhalb kurzer Zeit zu verkraften. Seine Frau bricht unter diesen Belastungen geistlich zusammen; sie kann und will inmitten ihres Unglücks Gott nur noch zynisch ablehnen (siehe Hiob 2,9). Doch Hiob selbst reagiert auf die Schreckensbotschaften mit scheinbar unmenschlicher geistlicher Kraft:

(Artikelauszug aus ethos 6/2017)