Unser Leben zwischen zwei Jahreszahlen. Was machen wir daraus?
Fritz Meier
19. September 2021

Neulich habe ich einen TV-Film gesehen. Eine Mutter verabschiedet sich von ihrer Tochter, die mit ihrem Freund nach Amerika gehen will. Die Mutter zur Tochter: «Ich wünsche dir einen guten Flug und ein schönes Leben.» Ein schönes Leben. Was ist das eigentlich? Jeder wird, ohne viel zu überlegen, darauf eine für ihn passende Antwort haben. Aber je länger man darüber nachdenkt, ist man sich auf einmal nicht mehr so sicher, was das tatsächlich bedeutet. Ja, was ist ein schönes, ein gutes, ein lohnendes Leben?

Der Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann bekam in der DDR Auftritts- und Publikationsverbot. Nach einer Konzertreise in Westdeutschland verweigerte man ihm 1976 die Rückkehr und Einreise in die DDR. Er wurde ausgebürgert, was zu Protesten führte. Später wurde Biermann mit vielen Literaturpreisen bedacht. Nach dem Mauerfall erhielt er das Grosse Bundesverdienstkreuz, wurde Ehrenbürger von Berlin und 2008 verlieh man ihm die Ehrendoktorwürde der Berliner Humboldt-Universität. Er hatte in der DDR an dieser Uni studiert und 1963 trotz erfolgreich verteidigter Abschlussarbeit kein entsprechendes Diplom erhalten. Es war, als hätte er die Uni nie von innen gesehen. Als Biermann etwa 50 Jahre alt war, stellte er in einem seiner Lieder die Frage: «... und das soll alles gewesen sein? ... da muss doch noch Leben ins Leben hinein.» Mit 50 kann man das vielleicht noch augenzwinkernd singen. Aber nun, mit über 80 Jahren, wäre das für Biermann entweder eine unglaublich zynische oder eine sehr verzweifelte Frage – die Frage nach dem Leben im Leben, nach dem Sinn des Lebens. Doch sie ist von erheblicher Relevanz.

Jeder von uns hat nur ein einziges Leben. Misslingt es, dann ist uns alles misslungen. Verspielen wir es, dann ist alles verspielt. Und dann bleibt nur noch der furchtbare Horror Vacui, der Schrecken der Leere.

Wir alle sind einzigartig, ein Original von grösster biologischer, seelischer, emotionaler und geistiger Komplexität, einmalig. Und Einmaliges ist immer auch wertvoll. So ist es wohl kein Fehler, nachdenklich zu werden und nach dem Sinn des Ganzen zu fragen. Denn wenn man keinen Sinn dafür findet, dann ist ein Leben trotz seiner Einmaligkeit leider auch einmalig sinnlos.

Verwechslung von Sinn und Zweck

Ludwig Wittgenstein war einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Als Sohn eines Grossindustriellen verfügte er über ein Millionenvermögen, das er jedoch verschenkte. In seiner bekannten Schrift «Tractatus logico-philosophicus» schrieb er: «Der Sinn der Welt muss ausserhalb von ihr liegen.» Die Welt kann nicht der Sinn dieser Welt sein. Ein Haus ist nicht sein eigener Sinn. Auch das Leben kann nicht der Sinn des Lebens sein. Doch viele denken genau so. Die bekannte Schauspielerin und Sängerin Erika Pluhar, eine bekennende Agnostikerin, singt in einem ihrer Lieder: «Ich weiss nicht, was ich glaub’n soll, also glaub ich halt ans Leben.» Aber nichts kann sein eigener Sinn sein. So ist das Schiff nie der Sinn des Schiffes und schon gar nicht ein Teil oder eine Eigenschaft davon, wie beispielsweise seine Steuer-
einrichtungen, seine Maschinen, Radar oder Computeranlagen. Diese Dinge gehören alle zum Zweck des Schiffes. Fatalerweise verwechseln wir am laufenden Band den Zweck mit dem Sinn. Der Sinn eines Schiffes ist eindeutig: Menschen oder Material über das Wasser von A nach B zu bringen. Und zu diesem Zweck kann es schwimmen, ist tragfähig, steuerbar usw. Wir stellen fest: Auch das Leben oder Teile davon können nicht Sinn des Lebens sein. Der Sinn des Lebens muss ausserhalb des Lebens liegen.

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