Ein Leben mit angezogener Handbremse
Yvonne Schwengeler
23. Juni 2023

Ein Trauma – was ist das? Man könnte es bezeichnen als überwältigendes Erlebnis des Schreckens und der Hilflosigkeit, welches das ganze Sein erschüttert. Ein Einschnitt in das Leben, das dem Opfer den Boden unter den Füssen wegzieht und tiefe seelische Wunden hinterlässt.

Weshalb verhält sich dieser oder jener Mensch so aggressiv? Warum zieht er sich bei der kleinsten Schwierigkeit in sein Schneckenhaus zurück? Weshalb wirken die Emotionen wie eingefroren? Weshalb diese nächtlichen Albträume, dieses Aufschrecken? Die plötzlichen Panikattacken, Zwänge oder Depressionen?

In der Seelsorge stehen wir oft vor Problemen, deren Hintergründe schwer zu durchschauen sind. Die Ratsuchenden haben oft auch keine Erklärung für ihr Erleben oder ihre Verhaltensweise. Weshalb? Manchmal verbergen sich dahinter traumatische Erlebnisse, welche die Betroffenen aus ihrem Bewusstsein verdrängt, ja, buchstäblich abgespalten haben, weil sie so schmerzhaft sind. Man spricht hier von Dissoziation. Es handelt sich um einen seelischen Prozess, ein Abwehrmechanismus, der einsetzt, um von dem traumatischen Erleben nicht überwältigt zu werden. Es ist zwar aus dem Bewusstsein verdrängt, aber immer noch vorhanden und wirkt im Verborgenen. Und es beeinflusst den Menschen, ohne dass es ihm bewusst ist.

Schicksalsschläge

Es gibt verschiedene Arten von Traumata. Ein Unfall, der plötzliche Tod eines nahen Angehörigen, ein Brand, Krieg oder ein Erdbeben – ganz unverhofft schlägt das Schicksal zu. Unvorbereitet. Die Folge ist ein Schock und als Reaktion die Leugnung. Es kann, es darf nicht sein!

Der Neurologe und Seelsorger Dr. Michiaki Horie, der sich mit Traumabewältigung beschäftigt hat, spricht aus eigener Erfahrung: «Es war am 6. August 1945, 8.15 Uhr. Wir wohnten in Hiroshima, Japan. Ich war ein Kind, noch nicht fünf Jahre alt. Es war Krieg. Aber was versteht ein Kind von Krieg? Ja, was für Sorgen hat ein Kind, das sich bei seinen Eltern geborgen weiss? – Wir sassen alle am Frühstückstisch, Mutter, Vater, mein Bruder, meine Schwester und ich. Mein einziger Kummer an jenem Morgen bestand darin, dass der Reisbrei nicht schmeckte. Plötzlich wurde ich von einem grell violetten Licht geblendet. Gleich darauf folgte eine ohrenbetäubende Detonation, und ich wurde von einem fallenden Hausbalken zu Boden gerissen. Es gelang meinen Eltern, mich zu befreien. Sie packten mich, und wir rannten – irgendwohin. Ich konnte nicht denken, aber ich sah. Doch ich verstand nicht, was ich sah. Über der Stadt hing eine Wolke. Es herrschte Totenstille. Ich erinnere mich heute noch an diese unheimliche Stille. Es war wie eine Todesstarre.

Dann wälzte sich ein Heer zerfetzter, entstellter Menschen über die Trümmer, wie Gespenster. Einige stolperten und blieben liegen. Gesichter konnte man nicht mehr erkennen. Ich nahm diese Bilder wahr, ohne zu verstehen.

Wir rannten weiter, Richtung Berge. Weg von der Stadt. Uns war der Tod auf den Fersen. Dann konnten wir nicht mehr. Noch immer sprach niemand ein Wort. Das Entsetzen hatte die Menschen stumm werden lassen; denn das tiefste menschliche Leiden hat keine Stimme.»

Dr. Horie beschreibt, wie dieses Erleben – zweihunderttausend Menschen hatten durch eine einzige Bombe den Tod gefunden – sein Leben überschattete. Er wollte das, was geschehen war, aus seiner Erinnerung löschen. Aber noch fünfzig Jahre danach, als er von einer Zeitungsreporterin interviewt wurde und er die Bilder sah, die er aus seinem Gedächtnis auszulöschen versuchte, wurde er von Tränen übermannt und sah sich wieder als fünfjähriges Kind inmitten all derer, die den letzten Rest von Leben zu retten suchten. «Die Bombe», so schreibt Horie, «war wie eine Zäsur, wie ein Zeiteinschnitt: das Leben vor der Bombe – das Leben danach.»

Ohne es zu wissen, waren auch seine Entscheidungen von diesem Ereignis geprägt. Das Leben war plötzlich zerbrechlich geworden. «Wir ahnten, dass wir es nicht festhalten, aber auch nicht nach unserem Willen formen konnten. Tief in mir war die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Frage nach dem Woher, Wohin, Wozu. Ich konnte diese Frage nicht zum Schweigen bringen. Der Buddhismus hatte keine Antwort, nur stummes Leiden. Ich suchte nach Antwort. So wurde ich Christ. Jetzt hatte ich eine neue Leidenschaft. Ich wollte ‹Jesus kennenlernen und die Kraft seiner Auferstehung›, wie es Paulus ausgedrückt hatte. Das, was mir zur Hilfe geworden ist, wollte ich weitergeben ... Aber ganz tief in mir war noch immer diese Totenstille, die alles menschliche Eifern in Frage stellte. Dann heiratete ich. Wieder erwachte die Angst, die in meinem Inneren schlummerte. Ich wusste von vielen, die den Schaden der Strahlen in die nächste Generation getragen hatten. Wie, wenn deine Kinder ... Aber meine Kinder waren gesund, ich war dankbar und glücklich. Doch vergessen hatte ich nicht. Heute kann ich zurücksehen als einer, der nicht in dieser Welt zu Hause ist, der weiss, dass wir unterwegs sind zu jener Stadt, in der Gott alles in allem ist. Wo es kein Leid mehr geben wird und kein Geschrei, wo auch der Tod nicht mehr sein wird. Dahin sind wir unterwegs. Aber noch leben wir in dieser Zeit, wo Freude und Leid von dem ewigen Geheimnis umschlossen ist.»

Gezeichnet

Neben dem akuten Trauma gibt es auch das chronische Trauma, das sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Denken wir an Krieg, an Zerstörung, Vergewaltigungen, an die langen Nächte der Bombenangriffe, das ständige Bedrohtsein, an qualvolles Sterben und Tod.
Oder an den Holocaust, die Folgen der Konzentrationslager, deren Schatten noch über den nachkommenden Generationen liegen. Wie kann ein Mensch mit diesen Bildern fertig werden? Wie ein normales Leben führen? Das Geschehene lebt in ihm, prägt ihn. Er bleibt ein Gezeichneter, ein Leben lang.

Sexueller Missbrauch an Kindern

So ist es auch bei sexuellem Missbrauch in der frühen Kindheit. Eine Untersuchung in den 90er-Jahren in einer psychiatrischen Klinik der USA zeigte, dass über die Hälfte der stationären und ambulanten Patientinnen in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden. Und heute spricht man davon, dass jedes vierte Kind einen sexuellen Übergriff erlebt hat. Sie klagen später über Schlaflosigkeit, sexuelle Störungen, über Dissoziation, unkontrollierte Wutausbrüche, suizidale Neigungen, Drogenmissbrauch und Alkoholabhängigkeit.

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 07+08/2023