«Ich ertrug es nicht, wenn andere Liebe bekamen ...!»
Daniela Wagner
2. Juli 2019

Wilhelm, dein Start ins Leben war denkbar schlecht, dass du lebst, ein Wunder ...
Ja, meine Mutter wollte kein drittes Kind. Sie weigerte sich nach meiner Geburt, mich zu versorgen: «Mach mit ihm, was du willst!», sagte sie zu meiner Schwester und würdigte mich keines Blickes mehr. Kein Füttern, kein Trösten oder Wickeln. Die vierjährige Bärbel tat wohl ihr Bestes, ich war ihre lebendige Puppe. Sie schaute, was Mama mit der einjährigen Monika machte, und tat es ihr nach. Ich muss furchtbar geschrien und gestunken haben. Nach wenigen Wochen hielt meine Mutter das Geschrei nicht mehr aus. Sie schnappte mich und legte mich kurzerhand auf einem Feldweg ab. Eine Frau fand mich und brachte mich ins Krankenhaus. Ich war völlig unterernährt, mein Körper mit Ausschlägen übersät. Mein Vater wurde informiert, er war täglich 14 Stunden bei der Arbeit und hatte die Situation nicht erfasst. Wutentbrannt jagte er meine Mutter fort und liess sich von ihr scheiden. Ein halbes Jahr lang musste ich in der Klinik behandelt werden. Wie man erzählte, knallte ich immer und immer wieder meinen Kopf an die Stäbe des Gitterbettchens, bis das Gesicht blutete. Die Krankenschwestern klärten meinen Vater auf, ich sei nicht normal, sprich «geistig behindert». Damals war das Hospitalismus-Syndrom nur wenigen ein Begriff.

Hat sich dann dein Vater um dich gekümmert?
Er heiratete wieder. Meine Stiefmutter kümmerte sich liebevoll um meine Schwestern und auch um mich, was ich damals aber nicht verstand. Als sie ein Baby bekam, artete mein Verhalten total aus. Ich hatte solch einen Hass auf die Kleine! Einmal drückte ich sie in der Badewanne unter Wasser. Da war ich knapp vier Jahre alt. Zum Glück kam meine Stiefmutter rechtzeitig und rettete Ulrike. Ich weiss nicht, weshalb ich sie ersäufen wollte. Es war blinder Hass.

Wenn wir spazieren gingen und ich Eltern sah, die ihre Kinder an den Händen hielten oder sie streichelten, rannte ich auf sie zu und schlug nach ihnen. Ich ertrug es nicht, wenn andere Liebe bekamen. Damit brachte ich meine Stiefmutter an den Rand der Verzweiflung, sodass sie schrie: «Wir haben den Teufel im Haus!»

Und später? Konntest du dich allmählich für Beziehungen öffnen?
Nein, im Gegenteil. Ich wollte Gangster werden ... das war der Traum meines Lebens. Ich wollte keine Freundschaft, keine Liebe. Schon als Siebenjähriger verfolgte ich nur ein Ziel: mir Respekt zu verschaffen. Man sollte mich fürchten. Ich war grausam, schnitt bereits in der ersten Klasse meiner Banknachbarin die Zöpfe ab oder rieb den Kindern das Gesicht an der Hauswand, bis sie bluteten. Mein Verhalten war weit entfernt von jeglicher Norm.

Ich kam in ein Kinderheim, dann ins nächste. Keiner wurde fertig mit mir! Was bin ich immer und immer wieder aus den Anstalten getürmt, ich wollte immer nur ausschlagen ...

So landete ich schliesslich in einem Heim für Schwersterziehbare. Einmal noch loderte ein Funke Hoffnung in mir auf und ich öffnete meiner Sehnsucht nach Liebe die Tür einen Spaltbreit. Unerwartet besuchte mich meine leibliche Mutter. Ich hatte sie nie mehr gesehen. Begleitet wurde sie von einem kleinen Mädchen, ihrer Tochter. Wir hatten schöne Stunden und ich dachte: Nun nimmt sie mich gewiss mit heim zu sich. Ich hatte keine Beziehung zu ihr. Sie hatte mich nie gewollt und doch wollte ich bei ihr sein ... Dann verabschiedete sie sich und ging mit dem Mädchen an der Hand davon. Ich sah ihnen mit dem Fernglas nach. Nicht ein einziges Mal hat sie sich umgedreht. In mir breitete sich ein Schmerz aus, der kaum zu beschreiben ist. Ich fürchtete, dieses erneute Verlassenwerden nicht zu überleben.

Wie hast du darauf reagiert?
Ich beschloss, niemanden mehr an mich ranzulassen, um nie mehr von jemandem verletzt zu werden. Gefühle verbot ich mir. Ich war eiskalt. Nichts berührte mich mehr, weder Arrestzelle, Prügelstrafen im Erziehungsheim ... nichts konnte mir was anhaben. Und niemals gestattete ich mir, zu weinen.

Beste Voraussetzungen für eine Verbrecherkarriere ...
Als ich dreizehn Jahre alt war, plante ich bei einem Ausflug, mit einem anderen Jungen abzuhauen. Wir klauten Geld und flohen mit dem Auto eines Erziehers. Ich sass am Steuer, beherrschte das Fahrzeug aber natürlich nicht. Plötzlich tauchte von rechts ein Polizeiauto auf. Mit unverminderter Geschwindigkeit rammte ich es. Der eine Polizist kam bei dem Unfall ums Leben, der andere sass zeitlebens im Rollstuhl.

Es kamen weitere Straftaten dazu ...
Ja, es waren 148! Die ganze Palette, ausser Sittlichkeits-Delikte. Es gab nichts, was für mich gesprochen hätte. Mord (auch wenn nicht mit Absicht), Totschlag, Raub, Menschenhandel ...

Während des Prozesses sah ich meinen Vater wieder. Der Richter fragte ihn: «Gibt es denn nichts, was bei Ihrem Sohn gut war, etwas, worauf Sie stolz sind?» Worauf mein Vater erwiderte: «Nein, es gibt nichts! Ich habe nur einen Wunsch: Bitte, führen Sie die Todesstrafe wieder ein und vollstrecken Sie sie an meinem Sohn. Wir können nicht mehr. Die ganze Familie geht kaputt.» Ich erinnerte mich, wie er früher zu mir gesagt hatte: «Wenn du so weitermachst, dann endest du im Zuchthaus.» Oder: «Du hättest im Graben verrecken sollen, du bist der Sohn einer Hure ...» Ich war damals etwa 21 Jahre alt.

«Ich habe einen gleichaltrigen Sohn», sagte der Richter zu mir, «es bricht mir das Herz, was Sie hinter sich haben, aber ich bin dazu da, das Gesetz zu vertreten. Dies besagt, dass die Gesellschaft vor Ihnen geschützt werden muss.»

Mein Vater drehte mir den Rücken zu und verliess den Raum.

Es folgten viele Jahre Gefängnis ...
Ja. Doch dieses «Rückenzudrehen» meines Vaters war für mich schlimmer als die nun folgenden 14 Jahre Zuchthaus. Im Gefängnis benahm ich mich furchtbar, tat ebenfalls nur Böses. Ich warf dem Wärter das Essen hinterher, machte Homosexuelle fertig ... Deshalb kam ich als Strafe oft in die Arrestzelle.
Das Einzige, was man haben durfte, war eine Bibel. Ich riss jeweils eine Seite raus und wickelte meinen reingeschmuggelten Tabak darin ein. Zum Zeitvertreib las ich jede Seite, bevor ich mir daraus meine Zigarette drehte. Ich hatte nie an Gott geglaubt. Plötzlich, ich war bei der Bergpredigt angelangt, traf mich eine Stelle:

«Ihr seid das Salz der Erde.» Wie ein Blitz durchzuckte es mich: «Du bist das Gift dieser Erde, kein Salz.» Erstmals dachte ich über mein Leben nach.

Bekamst du ein Bewusstsein für deine Schuld ...?
Das dauerte. Ich forderte Gott heraus: Wenn du Gott bist und real, dann musst du stärker sein als ich, fähig, mich zu verändern, meine sündige Natur zu besiegen. Dann werde ich eine Entscheidung für dich treffen.

Eines Tages fragte mich ein Gefangener, was mit mir los sei. Ich käme nicht mehr in die Arrestzelle, zettle keine Schlägereien mehr an, beleidige keine Homosexuellen ...

Mein Versprechen Gott gegenüber kam mir in den Sinn. Von dem Zeitpunkt an war mir klar, dass es ihn geben muss. So besorgte ich mir eine neue Bibel, die alte hatte ich ja «verraucht». Ich begriff bald, dass Jesus für mich gestorben war, um für meine Sünden zu bezahlen.

Als ich das erkannte, bekannte ich Gott meine Vergehen und war erleichtert, dass ich Vergebung empfangen durfte. Doch ein halbes Jahr vor meiner Entlassung stiess ich auf die Bibelstelle, wo es heisst: «... wenn wir unsere Sünden bekennen, dann ist er treu und gerecht ...» Mein Gewissen regte sich.
Es gab Punkte, von denen ich damals zu Unrecht freigesprochen worden war. Ich war auch darin schuldig, hatte es aber abgestritten. In mir tobte ein Kampf.

In der Hoffnung auf Unterstützung suchte ich den Gefängnispfarrer auf. Der meinte nur, so genau müsse man die Bibel nicht nehmen, nicht jede Aussage wörtlich verstehen. Ich solle nicht so blöd sein und mir meine baldige Freiheit vermasseln. Obwohl mir der Pfarrer «Absolution» erteilte, war mir klar, dass wenn Gott in der Bibel etwas sagt, er es auch so meint. So schrieb ich dem Richter einen Brief: dass ich mein Leben Jesus gegeben hätte und er sage, wenn ich meine Sünden bekenne, dann sei er treu und gerecht. Alles, wofür ich freigesprochen worden sei, darin sei ich ebenfalls schuldig. Kaum abgeschickt, bekam ich Panik. Wie hatte ich nur so naiv sein können und so was schreiben können, jetzt, wo die Freiheit zum Greifen nahe vor mir lag?

Lesen Sie das ganze Interview in ethos 07/2019.