Seit dem Kindergartenalter wird sie sexuell missbraucht. Diese Vergehen werden zur alles bestimmenden Macht in ihrem Leben, isolieren sie und drücken ihr den Stempel «wertlos» auf. Heute sagt sie: «Ich bin ein Wunder Gottes», und erzählt, wie es in ihrem Leben wieder hell wurde.
Anonym
1. Oktober 2017

«Ich wünsche dir Mut, von den Wundern Gottes in deinem Leben zu erzählen», schrieb mir eine Freundin. Zur selben Zeit las ich in meiner Andacht: «Wenn du dich selbst in und mit deinem schweren Leid annehmen willst, dann gebraucht Gott dich zur Stärkung für andere.» Es war, als fragte mich Gott, ob er meine bereinigte Vergangenheit ihm zum Zeugnis haben dürfe.

Ja, das wollte ich. Selbst hat es mir immer wieder Mut gemacht, von bewältigten Schicksalen anderer zu lesen. Sie halfen mir, mich zu öffnen, unter die Oberfläche meines Lebens zu schauen, und zeigten mir: Ich darf mich von Gott verändern lassen. Bei ihm ist nichts unmöglich! Ich wünsche mir, dass auch andere Frauen, die ihr Leben lang geschwiegen haben, sich trauen, über ihre Nöte und Siege zu reden. Heilung ist möglich.

Es soll deutlich werden, was sexueller Missbrauch und Vergewaltigung im Leben einer Frau anrichten. Ich appelliere an alle Eltern, wachsam zu sein, denn Übergriffe können in ganz normalem Rahmen geschehen, ohne dass sie jemand mitbekommt. Schaffen Sie eine Beziehung des Vertrauens, in der ein Kind solche Erlebnisse erzählen und über sein Innerstes reden darf. Denn es braucht einen Raum der Liebe, Sicherheit und Geborgenheit, um sich zu öffnen.

Fürs Leben gezeichnet

Im Kindergartenalter wurde ich sexuell missbraucht und im Grundschulalter vergewaltigt. Es begann zuerst wie ein Spiel, als ich zu Besuch bei meinen Verwandten war. Die (deutlich älteren) Cousins schlugen vor: «Lasst uns ‹Mama und Papa› spielen.» Anschlies-send drohten sie: «Wenn du jemandem davon erzählst, bringen wir dich um!» Später war es ein älterer Nachbar. Er ging mit mir zum Schlittenfahren und vergewaltigte mich dann bei sich zu Hause. Auch er drohte, mich zu töten, falls ich es jemandem erzählen würde. Ich war ein kleines Mädchen – und doch fürs Leben gezeichnet. Meinen Eltern gegenüber schwieg ich aus Angst, weil sie mich bestimmt bestraft hätten. Das prägte und belastete mich all die folgenden Jahre und führte dazu, dass ich auch später wieder in eine missbräuchliche Beziehung geriet.

Als Teenager fühlte ich mich wertlos, denn ich war keine «Jungfrau» mehr. In meiner christlichen Gemeinde gab es offenbar niemanden, dem so was schon mal passiert war. Um mich herum lebten nur «Fromme» und «Heilige». Nur ich war beschmutzt, schuldig, unrein. In mir schrie alles, doch ich unterdrückte meine Tränen. Die Scham vergrösserte sich ständig, darüber reden konnte ich aber mit niemandem. Kein Wort. Ich zog ein Schauspiel ab: zuhause die Brave, Starke, Fromme, in der Schule die Fröhliche, Witzige. Bloss nicht
zugeben, was ich mit mir herumtrug! Ich war ohne Hoffnung und dachte, ich müsste diese Last bis ins Grab mitnehmen.

Meine Eltern und die Leute in der Gemeinde waren sehr gesetzlich und autoritär. Nach aussen schienen alle perfekt, geistlich und fromm. Ich zweifelte an meinem Heil in Jesus, weil ich mich so schuldig fühlte. Selbst Jahre nach meiner Bekehrung belastete mich die Frage: Ist diese Schuld wirklich vergeben?

Ich fühlte mich wertlos vor Gott und den Menschen. Gleichzeitig wünschte ich mir jemanden, mit dem ich reden konnte, suchte nach Liebe und Annahme. Ich sehnte mich auch nach einem männlichen Gegenüber. Meinem Vater konnte ich mich nicht anvertrauen. Seine Erziehung bestand aus Härte und körperlicher Züchtigung. Verständnis oder Vergebung ohne Strafe erfuhr ich selten. Je älter ich wurde, desto strenger behandelte er mich. Oft bekam ich massive Schläge für meine Fehler.

Erst später habe ich erlebt, dass es auch möglich ist, Kinder zu erziehen, ohne sie zu verprügeln. Viele Eigenschaften meines Vaters übertrug ich auf Gott, denn er hatte ja auch immer den «passenden» Bibelvers parat: «Wen Gott liebt, den züchtigt er.» Dadurch prägte sich in mir ein völlig falsches Gottesbild ein. War ich krank, erlebte ich kein Mitgefühl: «Stell dich nicht so an!», bekam ich häufig zu hören. Ich durfte keine Schwäche zeigen oder Zweifel äussern. Gab ich Fehlverhalten zu, war das meist mit einer schmerzhaften Strafe verbunden. Die Angst davor brachte mich oft dazu, mich eher für eine Lüge zu entscheiden. So lernte ich, weder vor Gott noch vor Menschen ehrlich zu sein. Mittlerweile weiss ich, dass Gott ganz anders über Familie und Erziehung denkt und meine Eltern in ihrem Handeln mir gegenüber sicher nicht in
seinem Willen lebten. Wir haben uns aber inzwischen versöhnt, einander vergeben. Nun muss ich ihnen die fehlende Liebe und Geborgenheit, die ich gebraucht hätte, nicht mehr anrechnen.

(Artieklauszug aus ethos 10/2017)