Während ich auch in diesem Jahr wieder durch die ersten Werbekataloge mit ihren bunten Weihnachtsangeboten stöbere, fehlt mir die übliche Vorfreude. Es passt einfach nicht. In der Ukraine hinterlässt der Krieg viel Elend. Die grauenvollen Bilder des Massakers im Oktober letzten Jahres in Israel sind noch immer in meinem Kopf. Auch dort sind die Spuren des Krieges sichtbar. Der Blick in einen Abgrund, die Ratlosigkeit und zum Teil aktive Mitschuld unserer Politiker, wenn das Böse an vielen Orten der Welt überhandnimmt, wenn geschossen, geweint und gelitten wird, Familien zerbrechen, ungeborene Kinder im Mutterleib ermordet werden. Die Liste ist endlos.
Natürlich kann ich die Bilder in meinem Kopf wegklicken. Aber gerade diese Bilder von Leid und Tränen führen uns zum Kern der Weihnachtsgeschichte.
Auch das gehört zu Weihnachten: «Eine Stimme ist in Rama gehört worden, Weinen und viel Wehklagen: Rahel beweint ihre Kinder, und sie wollte sich nicht trösten lassen, weil sie nicht (mehr) sind» (Matth. 2,18). Der Evangelist zitiert aus dem Buch des Propheten Jeremia (31,15). Er hat die Ankunft Jesu vorausgesagt, die nicht von den sanften Klängen einer Panflöte begleitet wird, auch nicht von der ungetrübten Kulisse einer Schneelandschaft mit funkelnden Märchenlichtern.
Von Weihnachtsromantik ist im Originaltext wenig zu spüren. Man hört das Stampfen von Soldatenstiefeln, die gebrüllten Befehle eines machtgierigen Königs, der Konkurrenz wittert und sie im Keim ersticken will. Blutbespritzte Kinderzimmer in Bethlehem, untröstliche Mutterherzen, stöhnende Väter, ein Elternpaar auf der Flucht, ein Schwert, das auch das Herz der jungen Mutter durchdringt (Luk. 2,35).
Auch dieses Jahr werden sich viele Menschen gerade in diesem Teil des Weihnachtsgeschehens wiederfinden, mit einer Schwere in der Seele, die den Duft von Lebkuchen und Kerzen fade erscheinen lässt, während geliebte Melodien herzzerreissende Erinnerungen an vergangenes Glück hervorrufen, das für immer vorbei ist.
«Das hätte nicht passieren sollen»
Nachdem ich einmal über die Jahreslosung – «El Roi, der Gott, der mich sieht» – gesprochen hatte, fragte mich eine Zuhörerin erbost, warum ich die schmuddelige Geschichte der ägyptischen Sklavin Hagar nur als Schauplatz von Gottes Wirken dargestellt hätte. «Hätte alles nicht passieren sollen!», schimpfte sie. Ich war in dem Moment nicht schlagfertig genug, um einzuwenden, dass Hagar eine derart sensationelle Begegnung mit Gott erlebte, dass sogar ein Ort danach benannt wurde: «Brunnen des Lebendigen» (hebräisch: Beer-Lachai-Roi, 1. Mose 16,13–14). Er liegt zwischen Kadesch und Bered. Aber der Satz der Frau «Das hätte nicht passieren sollen» blieb bei mir hängen.
Die Bibel ist voll von Dingen, die nicht hätten passieren sollen.
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