– Meine Identität als Christ/in.
Roswitha Wurm
13. Januar 2021

Meine Kinder liebten das bunte Kinderbuch von einem kleinen rosa-weiss karierten Wesen, das sich auf die Suche nach seiner Identität machte. Verzweifelt durchstreifte das knollnasige, schlappohrige, kugelige Tier auf seinen kurzen Beinchen seine kleine Welt, eine bunte Blumenwiese. Es fand jedoch niemanden, der genauso aussah wie es selbst. Kurz vor dem Verzweifeln kam es zum Entschluss: «Jetzt weiss ich, wer ich bin: Ich bin ich!»

So wie das kleine «Ich bin ich» haben sich Philosophen aller Zeiten die Frage gestellt: Wer bin ich? Descartes kam etwa zum allgemein bekannten Schluss: Ich denke, also bin ich (Cogito ergo sum). Auf dieser Grundlage haben sich philosophische Gedankengänge entwickelt, die viele Menschen prägen. Aber eine befriedigende Antwort lässt sich darin nicht finden.

Als Christen wissen wir im Grunde genommen, wer wir sind: Gotteskind, Christusnachfolger und Ebenbild des Schöpfers. Wir erfahren in der Bibel: «Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden» (2. Kor. 5,17). Das Wort für «neu» in diesem Text ist «kainos» und bedeutet «etwas wurde gerade neu gemacht, das es noch nie zuvor gab». Wenn wir Jesus unser Leben übergeben, dann macht er uns komplett neu. Das klingt logisch und leicht verständlich. Dennoch fragen wir uns immer wieder: Wer bin ich eigentlich? Was ist dieses Neue in mir und worin unterscheidet es sich vom alten Ich? Warum bin ich noch immer fähig, Dinge zu tun, die alles andere als gut und gottgewollt sind?

Paulus erkannte den Zwiespalt, in dem wir als Christen jeden Tag stehen: das Gute zu wollen, aber es nicht zu tun. Das Anliegen und den Herzenswunsch zu haben, Gott ähnlicher zu werden und nach seinen Geboten zu leben, aber dennoch immer wieder zu fallen, um danach wieder mühsam aufzustehen.

Wer ist unser Herr?

Als Christen müssen wir nicht mehr nach unserer Identität suchen. Wir haben sie bereits in Christus gefunden! Je besser wir ihn kennenlernen, und je konsequenter wir täglich seine Gemeinschaft suchen, umso mehr werden wir begreifen, wer wir sind. Die Probleme der Identitätsfindung, die viele Nachfolger Jesu in unserer Zeit haben, liegen also nicht darin begründet, dass sie nicht wissen, wer sie sind. Sondern sie wissen nicht oder nicht ausreichend, wer der Herr ist, dem sie ihr Leben anvertraut haben.

Als Jesus getauft wurde, offenbarte sein Vater, was er über ihn denkt: «Dies ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe!» Bevor Jesus Kranke geheilt, Tote auferweckt und Menschen zu seinen Jüngern berufen hat, bevor er für unsere Schuld am Kreuz gestorben ist, war er zunächst einmal eines: der geliebte Sohn seines Vaters.

Das dürfen auch wir als wiedergeborene Christen wissen: Wir sind Gottes geliebte Kinder. Er hat uns zuerst geliebt. Nicht wegen unserer Taten, nicht wegen unseres übermässig grossen Glaubens, sondern weil er unser Schöpfer ist und nicht möchte, dass ein Mensch verloren geht. Das richtige Identitätsbewusstsein kommt durch die Erkenntnis, dass Gott mich persönlich zu seinem Kind erwählt hat und mich bedingungslos liebt.

Diese Wahrheit kennen wir eigentlich seit Anfang unseres Glaubenslebens, vielleicht sogar von Kindheit an, wenn wir das Vorrecht hatten, in einer christlichen Familie aufgewachsen zu sein. Die Frage ist: Wie präsent ist dieses wunderbare Wissen heute noch in unserem Leben? Freuen wir uns darüber jeden Tag oder hat sich eine gewisse Gleichgültigkeit in unseren Herzen eingeschlichen?

Du schaffst das?

Wenn man sich am christlichen Büchermarkt umsieht, dann unterscheidet er sich bei vielen Verlagen in unseren Tagen in der Themenwahl nicht wesentlich vom säkularen Büchermarkt. Die Hauptbotschaft lautet: Wenn du es wirklich willst, fest daran glaubst und alles dafür gibst, kannst du derjenige sein, der du immer sein wolltest. Auch viele christliche Botschaften in den sozialen Netzwerken beschäftigen sich mit diesem Thema.

Im Leistungssport und im Business hat man im Mentaltraining gute Erfahrungen mit diesen Ermutigungsparolen gemacht. Allerdings muss man auf dem Weg nach oben oftmals egoistische Ziele verfolgen und eine gehörige Portion Ellbogentechnik einsetzen. Wer dem Rat «Du schaffst es» und «Höre nur auf deine Bedürfnisse» folgt, der muss seine Mitmenschen häufig aussen vor lassen. Diese Haltung anderen gegenüber lässt sich allerdings nicht mit dem biblischen Grundsatz der Nächstenliebe vereinbaren und macht obendrein einsam. Ein Christ darf sich in diesem Zusammenhang immer vor Augen halten: Du bist nicht das, was du tust, sondern du bist derjenige, den Gott gemeint hat. Andernfalls machen wir – vielleicht ohne es zu wollen – aus dem philosophischen «Ich denke, also bin ich» ein «Ich tue, also bin ich»! Wir meinen genau zu wissen, wie man als guter Christ zu leben hat. Besonders klar ist uns das bei unseren Mitchristen. Wir fordern von anderen Perfektion und übersehen dabei, dass nur Gott perfekt ist. Als Folge davon identifizieren wir andere mit den Diensten, die sie in der Gemeinde tun. Entspricht der andere dann nicht unseren Vorstellungen, wie man solch einen Dienst zu verrichten hat, stellen wir ihn als Person infrage. «Wie kann ein Prediger nur ...», «Ein Kinderstundenleiter sollte doch ...» und «Für einen Missionar gehört sich nicht ...»! Dies führt dazu, dass wir beginnen, Masken aufzusetzen und «so tun als ob», um dem Bild, das andere in uns sehen wollen, zu entsprechen. Gerade in solchen Lebensphasen stellen wir dann unsere Identität infrage. Leider zeigen Maskenträger so lange ein anderes Ich, bis sie vergessen, wer sie eigentlich sind!

Mit Gottes Hilfe

Es geht in Gottes Reich nicht darum, Dinge zu erarbeiten, sondern Dinge zu empfangen, weil wir seine Kinder sind. Unsere kleine Enkeltochter Aby kann erst wenige Worte sprechen. Aber wenn sie Hilfe von Oma oder Opa braucht, dann kommt sie gelaufen, zieht uns am Bein und klatscht in die Hände. Das bedeutet: «Bitte, hilf mir!» oder: «Bitte, gib mir die Spieluhr!» oder: «Bitte, hebe mich hinauf!» Aby hat keine Scheu, ihre Grosseltern um etwas zu bitten und dann das Gewünschte begeistert zu empfangen.

Als erwachsene Christen fällt uns dieses Bitten und Danken schwerer. Wir wollen alles selbst machen, um dann sagen zu können: «Ich habe das geschafft!», und vergessen dabei zu ergänzen: «Mit Gottes Hilfe!»

Lesen Sie den ganzen Artikel in ethos 01/2021.